Kapitel 1

376 46 55
                                    


Ich blicke gegen die graue Decke. Milchiges Morgenlicht fällt durch die getönten Fensterscheiben. Eintönig, stumpf. Wie mein Alltag.

Gestern haben sie 04/10/36 weggebracht. Wir wissen nicht, ob wir sie wiedersehen. Manche von ihnen kommen zurück, mit Narben am Körper. Aber sie erinnern sich an nichts, sie meinen nur, dass sie eine Spritze spürten und erst wieder im Krankenflügel aufwachten... mit höllischen Schmerzen.

Die meisten kommen sowieso nicht wieder. Eines Tages verschwinden sie und niemals, nicht ein einziges Mal, haben die Protektoren meine Fragen beantwortet. Sie hielten nur schweigend meinen vorwurfsvollen Blicken stand. Aber um ehrlich zu sein, gesprächig waren sie noch nie.

Viele von uns haben aufgehört zu fragen.

Wir kennen nichts außer diesem Gebäude, nichts außer dem Blick in den Innenhof, nichts außer dieser Reihung von unendlichen Tagen.

Als sich mir die ersten Gedanken und Zweifel aufdrängten und ich nicht mehr vorbehaltlos alles als gegeben hinnahm, dachte ich es wäre eine Belohnung. Weggeholt zu werden meine ich. Ich war der Meinung, dass es etwas geben muss mit dem man sich das Ende hier verdienen konnte. Ein Leben nach diesem hier. Mittlerweile schleicht sich ein spöttisches, resigniertes Lächeln auf mein Gesicht, wenn ich an meine naiven Bemühungen denke.

Ich hatte im Unterricht mitgemacht, war zu allen Veranstaltungen pünktlich. Ich war höflich und freundlich, kam nie zu spät zur Visite. Nach einem halben Jahr war meine Motivation erschöpft. Ich schloss mich einer Gruppe der Älteren an. Sie hatten ein kleines, gebundenes Buch, das sie die Bibel nannten und welches vom Willen des Schöpfers Gott berichtete. Sie sprachen von Nächstenliebe, von zehn Geboten und vom Paradies im Himmel nach dem Tod. Mit anderen Worten: Ein Leben nach diesem hier. Ich begann zu beten, für das zu danken, was ich hatte und die in der Bibel gepredigten Regeln zu befolgen. Eine Zeit ging das gut. Es brachte einen selbstgewählten beruhigenden Rhythmus in den vorgeschriebenen Alltag. Dennoch begann die Demut in mir zu schwinden. Ich wollte keine Erlösung nach dem Tod, ich wollte nicht stundenlang zu einem Schöpfer beten, der ohnehin stets stumm blieb. In mir keimten Zweifel am wankelmütigen Konstrukt der Religion auf, für die einen mochte die göttliche Ordnung ein Anker in Not und Unwissenheit sein, ich brauchte und wollte Antworten und immer noch eines: am allerliebsten hier raus.

Denn ich war mir sicher – und ich bin es heute noch -, dass es mehr als das Leben hier gibt, ...ein Leben außerhalb.

In den Büchern, die unten in einem der Zimmer sind, findet man Geschichten über Helden und Heldinnen. Bewegende und bedeutende Geschichten, die an den wundersamsten Orten spielen. Über den Regalen hängt ein Schild „Fantasy". Aber egal ob die Erzählungen über Zauberstäbe, fliegende Maschinen, menschengroße Pflanzen oder Tiere, frei erfunden wurden, eines hat sich in meinen Kopf eingebrannt. Die Helden sind stets außergewöhnlich, mit zahlreichen Talenten und Charaktereigenschaften ausgezeichnet.

Das war die Zeit, in der ich begann zu malen.

Damit aufzufallen und nach einem wie auch immer gearteten Muster herausgepickt – belohnt - zu werden... herausgeholt zu werden, habe ich allerdings schon lange aufzugeben.

Mein Leben zieht sich hin, ein Tag nach dem anderen und Antworten habe ich noch immer nicht. Von uns allen verschwinden die Einen oder Anderen, unregelmäßig.

Und tief in mir – und ich gebe mir keine Mühe es zu leugnen – wartet etwas auf Umbruch.

Der Gong ertönt. Ich werde aufstehen, mich anziehen und auf den Ton warten, der signalisiert, dass die Tür nicht mehr verschlossen ist. Dann werde ich mit den anderen hinunter gehen und mich einreihen. Ich werde meinen Reif an den Scanner halten und von der Protektorin, die morgens schon seit ich denken kann das Essen verteilt, mein Tablett bekommen. Wie jeden Morgen.

Als ich mich setze bleibt mein Blick an der Flasche Wasser und dem halb vollem Glas auf einem leeren Tablett auf der Tischplatte hängen.

Meine Kehle wird trocken, in mir verkrampft sich alles. Ich sehe mich in Zeitlupe auf den Boden fallen, zersplittern...in tausend Teile. Wie lange es wohl brauchen wird mich zusammen zu setzen?

Seine Hand schließt sich um mein Handgelenk, zieht mich auf den Stuhl vor sich. Ich versuche zu atmen. „Nein", meine Stimme klingt tonlos, raschelndes Laub im stürmischen Herbstwind. „Nein". Die Worte bleiben stecken, kaum denkbar eine Sprache zu erfinden, die alle Ängste zum Ausdruck bringen könnte, welche sich in mir auftürmen. Noch ein, zwei mehr und sie brechen zusammen wie ein Turm aus Bauklötzen. Wenn sie am Boden liegen, weiß ich, dass der letzte Damm vor den Tränen gebrochen ist. „Nein". „Atme, es wird alles gut, ich komme wieder", seine Stimme ist sanft, beruhigend, zuversichtlich. Warum? Wie schafft er es nur angesichts des Abgrunds, der sich vor uns auftut? „Das wissen wir doch nicht", erwidere ich zaghaft, meine Stimme ist brüchig. Die Welt verschwimmt.

Bei den Gesundheitsvisiten jede Woche, bei Veranstaltungen und bei den Essensausgaben wird unser Reif mit unserer Nummer eingescannt und die Daten abgerufen. Zum Essen bekommt jeder seine eigene Mahlzeit, in individuellen Portionsgrößen und Gerichten. Und über all die Jahre ist mir eines gewiss geworden: Aus mir noch immer unbekannten Gründen bekommen die Meisten, die weggeholt werden, am Tag zuvor kein Essen. Zu keine der der Mahlzeiten, ... am nächsten Tag haben sie sie dann weggebracht.

Sie werden abgeholt, bekommen davor kein Essen.

Mein Atem stockt.

So wie heute Ruven.



So ihr Lieben. Ende erstes Kapitel ;)

Ich hoffe es hat dir gefallen. Und ich freue mich wahnsinnig, dass du überhaupt bis hier her gefunden hast! Wenn du Anregungen, Gedanken oder Fragen hast - bitte lass doch einen Kommi da und teil deine Eindrücke mit mir!

Wie du siehst steh ich noch ganz am Anfang, aber ich arbeite fleißig und es ist schön wenn du mich auf meinem Weg begleitest.

Alles Liebe :)

Spares - Sag mir wer ich binWhere stories live. Discover now