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Drei Wochen später wurde ich durch ein Rütteln an meinen Schultern geweckt. Sofort schlug ich meine Augen auf und schaute in die braunen Augen von Frank. „Du hast verschlafen, in einer halben Stunde klingelt Papas Wecker. Und heute ist Freitag." Ich seufzte. Freitags wollte mein Vater immer Pfannkuchen zum Frühstück. "Danke Frank. Viel Spaß bei Hannes' Geburtstag." „Danke. Bis heute Abend." „Ich schaue euch vielleicht aus der Ferne ein bisschen zu, ja?" „Solange dich niemand sieht und Papa dich hier nicht braucht, gerne." Ich nickte und schwang meine Beine aus dem Bett. Frank drückte mir einen Kuss auf die Stirn und wuschelte mir dann kurz durch die Haare. Ich boxte ihn leicht gegen die Schulter, dann verließ er mein Zimmer und kurze Zeit später die Wohnung. Ich zog mir ein braunes Top und eine schwarze Hose an. Meine Haare fasste ich zu einem Dutt zusammen und wickelte mir ein Band um den Kopf, deren Enden ich durch einen Knoten auf meinem Scheitel verband. Dann zog ich kurze Socken und meine ausgetretenen Converse an und lief in die Küche. Der Pfannkuchenteig war schnell gemacht und als mein Vater eine halbe Stunde später in die Küche kam, war sein Frühstück bereit, genauso wie ein Glas Wasser und eine Tablette gegen Kopfschmerzen. Wortlos ließ er sich auf den Holzstuhl fallen und schluckte die Tablette. „Ich bin für den Rest des Tages weg", ließ ich ihn wissen, doch er antwortete nur: „Bleib doch wo der Pfeffer wächst." Ich nahm das als Einverständnis und verließ die Küche. In meinem Zimmer schnappte ich mir den Hausschlüssel und verließ eilig die Wohnung. Immer zwei Stufen überspringend machte ich mich auf den Weg nach unten und schnappte mir vor der Haustür mein altes Skatebord, das ich immer im Buchsbusch versteckte. Ich stellte ein Bein drauf und holte mehrere Male Schwung, bevor ich auch das zweite Bein abstellte und zum See fuhr. Von Frank wusste ich, dass die Krokodile dort Hannes sein Geschenk geben wollten. Ich fuhr durch den Wald und versteckte mich schließlich hinter ein paar Bäumen. Ich sah, dass gerade der Anführer verabschiedet wurde. Olli würde mit seiner neuen Freundin in den Urlaub fahren, das wusste ich von Frank. Ich drückte mich dichter an die Bäume, als die beiden Turteltauben an mir vorbeifuhren und um die nächste Kurve verschwanden. Mein Blick richtete sich auf die verbliebenen  Vorstadtkrokodile, die sich jetzt auf den Weg zur Kart-Bahn machten. Ich folgte ihnen in sicherem Abstand. Als wir dort ankamen, war das große Tor abgeschlossen. Ich konnte sehen, wie sie ein Loch im Zaun fanden und so an die Karts kamen. Außer Kai, der ja im Rollstuhl saß und deshalb nicht mitfahren konnte, setzte sich jeder in eines der kleinen Teile und dann brausten sie kreuz und quer über den betonierten Platz. Irgendwann blieben die Karts in der Mitte nebeneinander stehen und ich konnte sehen, wie ein Arm auf das Parkhaus zeigte. Leider konnte ich nicht verstehen, was sie sagten, aber das musste ich auch nicht, denn es klärte sich nach kurzer Zeit von selbst. Die Karts heulten auf als die Krokodile Vollgas gaben und auf das Parkhaus zurasten. Sobald sie mich nicht mehr sehen konnten, folgte ich ihnen rennend. Ich entdeckte eine Regenrinne an der Wand und begann daran hochzuklettern. Auf diese Weise konnte ich die Gruppe auf jeder Etage sehen und beobachtete wie sie Schlenker fuhren oder im Slalom um die Säulen herum. Sie waren fast oben, als ich einen Zweikampf von Hannes und Frank beobachtete. Mit stockendem Atem verfolgte ich, wie Frank letztendlich von Hannes geschnitten wurde. Das Kart kippte auf eine Seite und landete schließlich so, dass es Frank begrub. Das Kreischen, das beim Schneiden entstanden war, war verstummt, alles schien still. Ich kämpfte gegen den Reflex zu meinem Bruder zu laufen und beobachtete weiter das Geschehen. „Frank!" Mit großen Augen sprang Hannes aus seinem Kart und rannte zu meinem Bruder, der sich langsam aufrichtete und den Helm vom Kopf zog. An seinem Arm war eine offene Wunde, aus der noch immer das Blut lief und seinen kompletten Arm verschmierte. „Hab ich gewonnen?" Ich musste leicht grinsen, denn das war typisch mein Bruder. Erleichtert atmete ich aus und sobald die Gruppe sich auf den Weg nach unten machte, tat ich es ihnen gleich. Eilig kletterte ich die Regenrinne hinunter und sprang drei Meter über dem Boden einfach ab. Mein Skateboard lag noch an Ort und Stelle und ich klemmte es mir unter den Arm bis ich fast aus dem Gebüsch heraus war. Die Krokodile hatten anscheinend gerade die Karts weggebracht und machten sich jetzt auf den Heimweg. Hannes und Maria liefen vorne, Jorgo in der Mitte und Frank und Peter hinten. Sie beredeten irgendwas und Frank antwortete. Er sah sehr blass aus und im nächsten Moment kippte er um. Mein Herz schien stehen zu bleiben. Mit dem Skateboard unterm Arm rannte ich zu ihm. Vorhin hatte ich dem Reflex widerstehen können, aber jetzt lag mein Bruder regungslos auf dem Boden und die blanke Panik erfasste mich. Sobald ich bei den Krokodilen angekommen war, ließ ich mich auf den Boden fallen und klatschte gegen Franks Wangen. "Frank! Wach auf! Bitte!" Im Hintergrund nahm ich wahr, dass Jorgo einen Krankenwagen rief. Die Tränen liefen über meine Wangen und der Schock saß tief. Plötzlich knieten sie alle neben mir und Maria sah mich fragend an. "Wer bist du?" Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass ich meine Deckung aufgegeben und Franks Geheimnis dadurch verraten hatte. Sollte ich lügen? Aber jetzt war es doch eigentlich eh schon zu spät. Ich atmete tief durch, dann antwortete ich. "Ich bin seine Schwester." Geschockte Blicke waren die Reaktion, aber bevor einer den Mund aufmachen konnte, fuhr der Krankenwagen vor. Zwei Männer stiegen aus und ich wurde von Hannes und Maria ein Stück weggezogen. Mit großen Augen musste ich beobachten, wie Frank untersucht wurde und dann auf eine Trage gehievt wurde. Mein Verstand schien zurückzukehren, denn ich rannte sofort zu einem der Sanitäter. "Ich muss mit!" "Warum?" "Ich bin seine Schwester." "Na gut, dann steig ein!" Ich drehte mich um und sah Peter, der mein Skateboard in der Hand hielt. "I-Ich neh-nehm's für d-dich mit", ließ er mich wissen und ich nickte ihm dankbar zu, bevor ich in den Krankenwagen sprang und mich neben Frank setzte. Die ganze Fahrt über hielt ich seine Hand und schaute besorgt zu, wie die Sanitäter an ihm herumwerkelten. Nach einer gefühlten Ewigkeit hielten wir an, die Türen wurden geöffnet und die Trage mit meinem Bruder herausgeholt. Ich sprang hinterher und sah aus dem Augenwinkel, dass auch die Vorstadtkrokodile angekommen waren und jetzt neben mir liefen. Frank wurde in irgendeinen Raum geschoben und ich wollte ihm folgen, als ich von einer Frau in grünen Klamotten ausgehalten wurden. "Halt, halt, halt! Ihr könnt hier nicht rein!" "Aber das ist unser Freund!", rief Hannes aufgebracht. "Ich muss zuerst mit seinen Erziehungsberechtigten sprechen." "Unsere Mutter ist tot", informierte ich die Ärztin und versuchte die aufkommenden Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. "Und der Vater?" "Ich hab kein Handy, um ihn anzurufen." "Aber ich", unterbrach Jorgo mich und ich drehte mich sofort zu ihm um. "Kann ich es mir mal bitte ausleihen?" Er nickte und reichte mir das kleine Ding. "Wie heißt der rothaarige Junge denn?", erkundigte sich jetzt die Ärztin und ich drehte mich kurz zu ihr um. "Frank. Frank Steffenhagen." "Und du heißt?" "Sophie Steffenhagen." Mit diesen Worten widmete ich mich dem Handy und tippte die Nummer meines Vaters ein. Es tütete mehrmals bis er endlich abhob. "Ja?" Ich hörte schon an seiner Stimme, dass er wieder betrunken war. "Papa, ich bins. Frank hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Du musst bitte kommen!" "Und was hast du da zu suchen?" "Ich bin seine Schwester und habe das Recht dazu!" "Du kommst sofort nach Hause. So einen Schwachsinn muss ich mir von so einer dummen Göre wie dir nicht anhören!" "Papa, es ist die Wahrheit! Frank ist im Krankenhaus, weil er einen Unfall auf der Kart-Bahn hatte!" "Verarschen kann ich mich selber!" Seine Stimme war sehr aggressiv geworden und wenn ich bei ihm gewesen wäre, hätte er mich jetzt wahrscheinlich geschlagen. Als ich antwortete, klang meine Stimme nur noch weinerlich. Ich hatte einfach keine Kraft mehr. "Ich bitte dich Papa. Komm ins Krankenhaus und steh Frank bei. Denn außer uns beiden hat er keinen mehr. Bitte." Die ersten Tränen tropften meine Wange herunter, doch mein Vater zeigte keine Einsicht. "Du kleine Schlampe willst dich doch nur wichtig machen!", donnerte er ins Telefon, "Du kommst gefälligst nach Hause und putzt das Wohnzimmer. Wenn ich wiederkomme, bist du fertig!" Sich wiederholendes Tuten war das Zeichen, dass er aufgelegt hatte. Ungläubig starrte ich auf das Handy in meiner Hand und die Tränen strömten wie Wasserfälle. Meine Knie wurden wacklig und haben schließlich nach. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und weinte bitterlich. Meine Atmung wurde immer kürzer und ich hatte das Gefühl, dass mir jemand die Kehle zudrückte. Das Stimmengewirr und die Rufe um mich herum bekam ich gar nicht mehr mit. Plötzlich war da ein Piksen auf meinem Handrücken und dann wurde es langsam schwarz vor meinen Augen. Das letzte, was ich schemenhaft wahrnahm, war Hannes' besorgtes Gesicht.

Um ihren Freund zu retten...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt