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„Nein! Bitte nicht Papa!" Schützend hielt ich meine Hände vor meinen Kopf und hörte es leise knacken, als die kräftige Faust auf die Knöchel meiner Finger traf. Es folgten mehrere Tritte in meinen Bauch und mein Vater schrie mich die ganze Zeit an. „Du dummes Stück Dreck! Du hast schon wieder das falsche Bier mitgebracht! Wenn du deinen Zubringern immer die falsche Sorte sagst, kannst du nicht davon ausgehen, dass sie das richtige Zeug mitbringen! Wann kapierst du das endlich?!" Ich wimmerte leise, als seine Faust mit voller Wucht mein Auge traf, weil meine Hände auf meinem schmerzenden Bauch lagen. „Jetzt steh gefälligst auf und schütte das Zeug weg. Morgen bringst du mir das richtige Bier und bezahlst es von deinem eigenen Geld! Ist mir egal wie du das auftreibst, du kleine Schlampe!" Endlich ließ er von mir ab und verschwand wankend im Wohnzimmer. Ich lehnte mich erschöpft gegen die dreckige Wand und atmete tief durch. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass er mich schlug, aber es tat mir jedes Mal im Herzen weh. Vorsichtig richtete ich mich auf und lief in die Küche. Das Paket mit dem falschen Bier klemmte ich mir unter den Arm und brachte es in mein Zimmer, wo ich es unter dem Bett versteckte. Vielleicht konnte ich es verkaufen und von dem verdienten Geld das neue Zeug kaufen. Meine Beine führten mich zurück in die Küche, wo ich einen Lappen befeuchtete und über den Herd und die Arbeitsplatte wischte. Anschließend ließ ich heißes Wasser in die Spüle laufen und warf den ersten Topf hinein. Etwas Spülmittel und ein Schwamm, dann begann ich die Reste der angesetzten Kartoffeln vom Mittagessen abzuschrubben. Das Öffnen der Haustür ließ mich aufschauen. Die Schritte meines Bruders näherten sich und dann stand er im Türrahmen und schaute mich mit schiefgelegtem Kopf an. Seine Augen fixierten die brennenden Stellen in meinem Gesicht. „Was hast du falsch gemacht?", erkundigte er sich schließlich. „Ich habe nicht das richtige Bier gekauft." „Hast du es dir wieder von Dennis' ehemaligen Kumpels holen lassen?" Ich nickte stumm. „Was wollten sie dafür?" „50 Euro." „Und?" „Küsse." Frank seufzte und lief zu mir. Seine Hand strich beruhigend meinen Arm hinab und seine besorgten Augen musterten mich. „War es sehr schlimm?" „Ich will nicht darüber reden. Hilf mir lieber." Ich drückte ihm das Geschirrtuch in die Hand und den Topf, den ich gerade gespült hatte. Schweigend begann Frank abzutrocknen, während ich nach den nächsten Sachen griff. Es dauerte nicht lange bis wir fertig waren, denn nur mein Vater hatte einen Teller und Besteck benötigt. Ich durfte mir nur manchmal die Reste nehmen, wenn er etwas übrig gelassen hatte. Heute waren es drei Kartoffeln und ich fühlte mich einigermaßen satt. Frank wurde von meinem Vater komplett anders behandelt. Wenn er zu Hause war, dann durfte er essen so viel er wollte. Früher hatte Frank das schamlos ausgenutzt, sodass ich gar nichts bekommen hatte, aber als er älter wurde hatte er immer wieder Essen für mich mitgehen lassen, das ich dann in meinem Zimmer verzehrt hatte. Am meisten gelitten hatte Frank unter unserem älteren Bruder Dennis. Er kam ganz nach unserem Vater und hatte Frank und mich früher ständig beleidigt oder geschlagen. Das ganze hatte allerdings ein Ende gefunden, als Frank und seine Bande Dennis ins Gefängnis gebracht hatten. Seitdem war das Leben meines rothaarigen Bruders um einiges leichter geworden, während ich weiterhin von unserem Vater misshandelt wurde. Noch immer hegten Frank und ich die Hoffnung, dass alles besser werden würde. Wenn mein Vater irgendwann begriff, dass ihm der viele Alkohol nicht gut tat, würde er aufhören und wieder wie früher werden, wie vor Mamas Tod. Ich hatte nur ein einziges Mal versucht, meinem Vater die Flaschen wegzunehmen und es hatte für mich ein böses Ende gehabt. Seitdem versuchte ich nichts mehr und hoffte, dass er von allein aufhören würde. „Träumst du schon wieder?" Verwirrt schüttelte ich den Kopf und schaute überrascht zu meinem Bruder. „Wie war es heute bei den Krokodilen?", entgegnete ich. Sofort schlich sich ein schiefes Grinsen auf Franks Lippen. „Wir haben Hannes' Geburtstagsgeschenk gekauft." „Toll." „Ja, er hat es sich gewünscht, also können wir damit nichts falsch machen." „Ich bin froh, dass es dir bei den Vorstadtkrokodilen so gut geht." Frank nickte und lächelte leicht. Am Anfang hatte er der Clique sehr skeptisch gegenüber gestanden und mir strengstens verboten mit ihnen zu reden oder mich ihnen zu zeigen. Ich schätzte mal, dass das der bekannte Große-Bruder-Instinkt war. Na ja, dann war er ein Mitglied geworden und irgendwie hatte er es nie geschafft, mich vorzustellen und so wussten die Vorstadtkrokodile noch immer nichts von meiner Existenz. Der Ruf meines Vaters aus dem Wohnzimmer, unterbrach unser Gespräch. „Frank?" „Ja, ich bin zu Hause!" „Komm zu mir ins Wohnzimmer und lass deine Schwester die Küche putzen!" Obwohl seine Stimme erfreut über die Anwesenheit seines Sohnes klang, war der befehlende Unterton nicht zu überhören. „Sorry." Mit einem entschuldigenden Blick verließ Frank die Küche und ich öffnete seufzend einen der Schränke, in dem ich einen alten Lappen fand. Ich machte ihn nass und wischte die komplette Küche, dann sortierte ich den Inhalt des Kühlschrank, sodass die älteren Sachen vorne standen und die frischeren hinten. Zum Schluss kniete ich mich auf den Boden und wischte auch diesen mit dem Lappen. Als ich endlich fertig war, schmerzten meine Knie von den harten Fließen, die den Boden schmückten. Erschöpft und verschwitzt wrang ich den Lappen aus und legte ihn zum Trocknen auf den Rand der Spüle. Ich musste gähnen und hielt mir automatisch die Hand vor den Mund. Meine Beine führten mich ins Zimmer meines Vaters, wo ich die stinkende Wäsche einsammelte und in einen Wäschekorb schmiss. Dasselbe tat ich bei Frank und mir, dann steckte ich meinen Hausschlüssel in meine Hosentasche und verließ die Wohnung. Die kühle Luft des Treppenhauses schlug mir ins Gesicht und ich genoss die Abwechslung zu den stickigen Zimmern. Mit schlurfenden Schritten lief ich in den Keller, wo ich die Wäsche sortierte und die Sachen in die großen Wäschebeutel warf. Hier wurde sortiert nach schwarz, weiß, bunt und Wolle. Ich ordnete die Klamotten ein und stellte nach einem Blick auf die Uhr über der Tür fest, dass jeden Moment die Frau des Hausmeisters kommen würde, um die Waschmaschinen anzuschmeißen. Ich wartete fünf Minuten, dann betrat die Frau mit den grau-braunen Haaren den Waschkeller. Als sie mich sah, begann sie zu lächeln, was ich so gut es ging erwiderte. „Hallo Sophie, was machst du denn hier?" „Ich habe die Wäsche runtergebracht und dachte, ich könnte ihnen ein bisschen helfen." „Das ist lieb von dir. Kümmerst du dich um die schwarze Wäsche? Es ist recht viel, deshalb werden wahrscheinlich zwei Waschmaschinen voll. Wie viel Waschpulver du nehmen musst weißt du?" Ich nickte und wandte mich dem Beutel zu. Ganz oben lagen meine Klamotten, die mir fast alle zu groß waren, da es die alten Klamotten von Dennis und Frank waren. Wenn ich mal ein bisschen Geld hatte, kaufte ich mir eigene Sachen, aber meistens musste ich davon das Bier für meinen Vater bezahlen. Seufzend durchsuchte ich den Beutel falls jemand etwas Falsches hineingeschmissen hatte und warf anschließend alles in die Waschmaschinen. Waschpulver und anschalten. Ich machte auch noch den Beutel mit der weißen Wäsche und konnte hier sogar drei Waschmaschinen füllen, was wahrscheinlich an der Unterwäsche lag. War bei Frauen weiße Unterwäsche wirklich so beliebt? Anscheinend schon. Ich streckte einmal meinen Rücken durch und drehte mich dann zu Frau Jansen um. „Vielen Dank für deine Hilfe Sophie. Hier." Sie reichte mir einen zerknitterten 5€-Schein, den ich dankbar in meine Hosentasche schob. „Mach's gut, Kleine." „Bis bald." Ich lächelte ihr noch ein letztes Mal zu, bevor ich die Treppen nach oben rannte, wobei ich immer zwei Stufen auf einmal nahm. Leicht keuchend schloss ich oben die Haustür auf und machte sie leise hinter mir zu. Mit vorsichtigen Schritten näherte ich mich dem Wohnzimmer, um nach meinem Vater zu schauen. Er lag auf dem Sofa und schlief. Ein leises, stetiges Schnarchen entfloh seinem Mund und ich musste leicht lächeln. Trotz allem war er mein Vater und ich hatte nur noch ihn und Frank. Ich nahm die Decke vom Sessel und legte sie über meinen Vater, der sich sofort daran klammerte. „Gute Nacht Papa", flüsterte ich und schlich auf Zehenspitzen aus dem Wohnzimmer. Auf dem Weg in mein Zimmer kam ich an der Küche vorbei und entdeckte Frank am Tisch. Im spärlichen Licht der Glühbirne, die von der Decke hing, erkannte ich sein lächelndes Gesicht. Ich klopfte leise gegen den Türrahmen und mein Bruder schaute auf. Ich näherte mich ihm und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch. „Was hast du da?", fragte ich interessiert und nickte zu dem Bild, das er in den Händen hielt. Er reichte es mir und erkannte auf den ersten Blick, wer die Personen auf dem Foto waren. Olli, sein bester Freund und gleichzeitig der Anführer der Vorstadtkrokodile, seine Schwester Maria, der Grieche Jorgo, der stotternde Frank, der im Rollstuhl sitzende Kai und der Jüngste der Bande, Hannes. „Sie sind wie meine Familie." Leicht lächelnd schaute ich Frank an. „Wenn ich bei ihnen bin, dann vergesse ich dieses dreckige Loch hier oder unseren Vater." „Und mich auch?" „Dich könnte ich nie vergessen, das weißt du doch. Irgendwann werde ich dich den Krokodilen vorstellen, versprochen. Aber erst müssen wir das Problem Papa lösen." „Das mache ich schon irgendwie. Verbring' du lieber die Zeit mit deinen Freunden." „Es ist komisch wenn die anderen immer alles kaufen können und ich nicht. Da komme ich mir immer schlechter vor." Besorgt musterte ich Frank. Er sollte sich nicht schämen müssen, dass unser Vater in Vergängliches investierte, sprich seinen Alkohol. Ich kramte den 5€-Schein aus meiner Hosentasche und reichte ihn meinem Bruder. „Hier. Damit kannst du deinen Freunden morgen irgendwas spendieren." „Danke." „Nicht dafür. Du bist mein Bruder. Ich würde alles für dich tun."

Um ihren Freund zu retten...Where stories live. Discover now