Kapitel 87

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POV Tim
Bielefeld, jetzt (am Tag des Umzugs)

Nervös wippte ich mit den Füßen auf und ab, welche ich auf dem Armaturenbrett abgelegt hatte und starrte aus dem Fenster. Bald geht's los. Ich war schon so aufgeregt, dass ich Igor's Geschwafel gar nicht mehr zuhörte und anstelle verträumt an Lukas dachte.
„Tim."
„Was?"
„Hast du alles?", fragte Igor mich ein wenig genervt.
„Ja."
„Bist du dir sicher?" Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, während wir an einer roten Ampel hielten und ich überlegte.
„Nee, alles da." Mein Freund warf mir einen ungläubigen Blick zu und starrte mich kurz an. In dem Moment wusste ich, was ich vergessen hatte. Leicht panisch schrie ich kurz auf und rief:
„Fuck, mein Handy!" Mein Freund warf seine Arme genervt in die Luft und schaltete dann den Blinker ein, um eine illegale Kehrtwende einzulegen, die jedoch keine Sau im ruhigen Bielefeld kümmern würde. Vermutlich noch nicht einmal die Polizei. Das würde sich auch bald ändern, sobald ich in der Großstadt angekommen war. Kurz darauf waren wir wieder bei meinem Haus angekommen, in welches ich hektisch stürmte und meinem Bruder Luis, der sich gerade in Seelenruhe auf meiner Couch ausgebreitet einen Joint gerollt hatte, einen Heidenschreck einjagte.

„Handy...ver...gessen...muss...los...keine...Zeit...zu...erklären", schrie ich und rannte gehetzt durch die Wohnung, um mein Handy zu finden. Als ich es endlich fand – es lag in der Mikrowelle aus irgendeinem Grund, der höchstwahrscheinlich etwas mit dem Konsum illegaler Substanzen zu tun hatte – verabschiedete ich mich zum gefühlt zehnten Mal von Luis und ging zum Auto, in welchem Igor seinen Sitz so weit wie möglich nach hinten geklappt hatte und ein kurzes Schläfchen gehalten hatte.


„Heisenberg und Gustavo dachten, wir würden wieder nachhause fahren und waren beide ziemlich aufgeregt. Die haben beide an den Käfigen gekratzt", informierte mich Igor gelangweilt.
„Ach, die Armen." Ich strich meinen Tieren kurz jeweils über den Kopf und setzte mich dann in den Beifahrersitz.
„Hast du jetzt alles?"
„Ja."
„Sicher?"
„Ja."
„Timi..."
„Handy, Geldbeutel, Koffer, Tiere, Kippen, Gras. Alles da."
„Die kleine Sache für Lukas vielleicht?"
„Ähhh..."
„Du bist echt so verpeilt! Ich hol ihn schon. Wo ist er denn?"
„Auf der Kommode im Gang." Stöhnend stieg er aus und ging auf das Haus zu, ehe er sich wieder umdrehte und mich durch das offene Fenster fragte:
„Hast du sonst noch etwas vergessen? Ehe wir wieder zurückfahren müssen?"
„Hmmm...nee, glaub nicht. Du kannst es mir ja dann per Post schicken", grinste ich ihn an und kassierte eine Kopfnuss. Er schüttelte den Kopf und verschwand im Haus. Kurz darauf kam Igor wieder zum Auto. Er warf mir das kleine Päckchen auf den Schoß und startete den Motor.
„Wie konntest du das nur vergessen...?", murmelte er und ich fühlte mich sofort schlecht. Wie konnte ich das nur vergessen? Das Allerwichtigste? Das, was Lukas und mein Leben für immer verändern würde?
„Ich...keine Ahnung. Ich bin einfach nur ein furchtbarer Freund, dass ich das verpeilt habe..."
„Stress dich nicht, du hast ihn ja. Ist ja kein Weltuntergang. Scheisse, wenn sich dieser Arsch vor mir nicht endlich bewegt, hau ich ihm eine rein! Fuck, da denkt man echt, man sei in Bielefeld aber diese Autofahrer benehmen sich so, als wären sie im bayerischen Nirgendwo", fluchte Igor und hupte ein paar Mal hintereinander, was jedoch auch nicht half.

POV Lukas
Berlin, einen Tag zuvor
Auch wenn ich nicht genau wusste, was Timi jetzt gerade machte, war ich mir sicher, dass er mal wieder etwas vergessen hatte. Ich konnte mir ganz genau vorstellen, wie er hektisch in seiner Tasche kramte, Kippe im Mundwinkel, und sein Zugticket, sein Handy oder seinen Geldbeutel suchte. Im schlimmsten Falle würde er sogar seine Haustiere vergessen – was die ultimative Katastrophe wäre – und dann müssten wir ihn definitiv in die Klapse einführen lassen. Bei der Vorstellung, wie Heisenberg und Gustavo traurig auf Tims Fensterbrett saßen und die Ohren hängen ließen, weil ihr Herrchen so unglaublich nutzlos war, musste ich lächeln. Dann warf ich einen Blick nach draußen, wo es endlich angefangen hatte zu schneien. Flocke für Flocke, oder eher: ganz viele, kleine, weiße Wattebällchen-ähnliche Flocken (wenn man die Situation de-romantisieren wollte) kamen vom Himmel.
„Bald können wir das hier zusammen anschauen", murmelte ich, den Finger auf das eisige Glas des Fensters legend und mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, als ich daran dachte, dass Timi bald bei mir einziehen würde. Während ich weiterhin lächelte, klingelte plötzlich mein Handy. Ein Blick auf den Bildschirm verriet mir, dass das meine Eltern sein mussten. Ich wägte meine Optionen aus, dachte daran, dass es bald Weihnachten war und ich es vermutlich bereuen würde, sollte ich den Anruf ignorieren. Also entschied ich mich schließlich für die klügere Option: ich hob ab.
„Ja?"
„Lukas! Wie geht's dir? Hast du dich schön warm angezogen? Du kannst dir jetzt wirklich keine Erkältung leisten! Bist du schon aufgeregt? Ist Tim schon da? Hast du die Wohnung auch schön sauber gemacht? Meine Güte, ist das alles aufregend!" Das war natürlich meine Mutter. Ich seufzte und meinte dann:
„Gut, ja ein wenig, nein noch nicht, ja, find ich auch."
„Was ist denn jetzt was? Sag mal, du hast doch sicherlich nicht so viel zu tun, dass du deinen Eltern noch nicht einmal in vollen Sätzen antworten kannst. Es ist schließlich Weihnachten und dein Album ist schon seit Wochen draußen! Also zu beschäftigt bist du auch nicht." Ich rollte die Augen und antwortete:
„Ja, ich bin schon aufgeregt. Irgendwie..." Ich dachte kurz nach – wenn mir jemand mit meinen Zweifeln helfen konnte, dann waren es meine Eltern.


„Was denn?", fragte meine Mutter gespannt.
„Ich habe halt Angst, dass...dass es nicht klappt. Mit dem Zusammenziehen. Dass wir Probleme kreieren werden, die früher nicht da waren."
„Ach, Luki, so schlimm wird das schon nicht. Ihr werdet neue Probleme haben, aber ihr werdet auch lernen, die zu lösen. Das packt ihr schon."
„Meinst du?"
„Aber natürlich. Du hast es mit deiner Musik geschafft, du hast es mit dem Umzug nach Berlin geschafft, du hast es mit deiner Beziehung zu Tim geschafft. Es war zwar alles nicht ganz so einfach, aber bis jetzt gab es auch keine Katastrophen, zumindest keine die nicht beseitigt werden konnten."
„Aber sag mal, Lukas", meldete sich plötzlich mein Vater.
„Ja?"
„Ist das...also, es geht mich ja eigentlich nichts an, aber..."
„Was?", fragte ich zerknirscht.
„Naja, ist das nicht zu früh? Mit euch beiden? Ihr seid doch erst seit drei Jahren zusammen, und..."
„Vier. Seit vier Jahren, Papa."
„Ja, und..."
„Was ist denn, Mannfred? Lass das Kind doch seinen Weg gehen. Lukas ist sechsundzwanzig, der kann schon seine eigenen Entscheidungen treffen", meckerte meine Mutter, während mein Vater verstummte und ich anfing zu grinsen. Die beiden liebten sich ohne Ende und doch gab es immer wieder Zankereien wegen ganz banalen Dingen, so wie meine Partner.

„Also Luki. Hast du dir eine schöne Wohnung ausgesucht? Weißt du, nur weil du keinen Porsche besitzt, musst du nicht auch noch bei einer Wohnung sparen. Am Ende kosten die billigen Wohnungen nämlich mehr. Da geht immer so viel kaputt, im Winter heizen sie nicht richtig, im Sommer ist es zu stickig, und..."
„Ja, Mama, es ist eine sehr schöne Wohnung. Ich sitze ja gerade in ihr. Heute ist eh meine erste Nacht hier. Ich glaube, sie würde euch gefallen. Ich schicke euch mal Fotos", meinte ich fast monoton. Irgendwie war mir das alles zu viel. Die Gedanken, dass das hier eine schlechte Idee sein würde, dass alles in die Hose gehen würde, dass wir uns am Ende gar nicht mehr lieben würden, dass ich Timi nochmal fremdgehen würde, dass wir uns trennen würden und ich am Ende alleine sein würde.
„Lukas?"
„Ja?"
„Ich habe dich etwas gefragt." Verwirrt blinzelte ich ein paar Mal und versuchte mich an irgendwelche Sprachfetzen zu erinnern, die mir einen Tipp geben könnten, worüber wir gerade geredet hatten. Doch es kam nichts, also musste ich blöd nachfragen:
„Ähh...ja, was denn?"
„Ob du glücklich bist." Mein Vater sprach diesen Satz in einer sehr väterlichen Art aus: nicht panisch oder wütend, auch nicht traurig oder besorgt, sondern einfach nur interessiert. Ich dachte kurz an Timi, an unsere letzten Wochen gemeinsam, wie schön das alles war, wie wir wieder „zurück an den Anfang" gegangen waren, alles wieder von vorne gestartet hatten und genau das gebraucht hatten. Den Sex, die Gespräche, das Kuscheln, die stundenlangen Telefonate, die Konflikte, die Frustration, das Lachen.
„Ja, sehr sogar", antwortete ich schließlich und konnte mir vorstellen, wie meine Eltern am anderen Ende der Leitung lächelten.

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