Kapitel 74

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POV Tim
Bielefeld, jetzt
„Tim, es hat keinen Sinn. Wenn er sein Handy nicht beantwortet..."
„Aber vielleicht ist er nur gerade unterwegs und..."
„Was würde unser Goldkehlchen denn um zwei Uhr nachmittags machen, außer zuhause sitzen und arbeiten, hmm?" Basti sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und ich wich seinem Blick aus, indem ich auf dem Boden mit meinem rechten Fuß scharrte und traurig nach unten blickte. Vielleicht wieder Matthias ficken?!
„Jetzt mal ehrlich, Tim. Wenn du ihn unter Druck setzt, dann wird das nie was zwischen euch. Also: Handy weg und wir buffen jetzt erstmal einen. Ich habe auch etwas Schnee mitgebracht. Du warst sicher schon lange nicht mehr Ski fahren, stimmt's?"
„Keine Lust."
„Doch, hast du." Igor reichte mir einen fertiggerollten Joint, den ich jedoch nicht annahm, woraufhin Basti Igor den Joint entnahm, ihn mir aggressiv zwischen die Lippen steckte und anzündete. Etwas perplex (und höchstwahrscheinlich auch aus Gewohnheit) inhalierte ich und fühlte mich...genauso wie zuvor.
„Es wirkt nicht...", jammerte ich.
„Alter! Was ist denn los mit dir? Sei nicht so ungeduldig." Basti, der sich gerade zwei Lines vorbereitete, warf mir einen bösen und zugleich verwirrenden Blick zu, während Igor sich auf meiner Couch nach hinten gelehnt hatte, die Augen genießerisch geschlossen und vollkommen entspannt wirkte.

„Sudden, kann ich dich mal was fragen?", fragte ich leise meine Zielperson eine halbe Stunde später. Der Angesprochene sah mich verwirrt an, nickte und stand auf, um mir zu folgen, als ich mich von den anderen entfernte. Wir setzten uns in meine Küche, wo ich anfangs mit einer Tasse spielte und schwieg, während Sudden sich geduldig mir gegenübersetzte. Dann saßen wir einige Minuten schweigend da.
„Was ist denn?", hakte Sudden irgendwann nach, als ihm das Schweigen anscheinend zu blöd wurde. Und ich seufzte nur. Eine Sache, die ich an Sudden wirklich schätzte war, dass er manchmal einfach still sein konnte – auch wenn dies sehr, sehr selten vorkam. Er konnte natürlich auch unglaublich nervig sein, doch in bestimmten Situation, wusste er, was die andere Person brauchte und benahm sich dann auch dementsprechend.
„Ich will das alleine machen", meinte ich plötzlich.
„Was...was meinst du?", fragte Sudden.
„Das mit Lukas. Mit dem Anruf. Ich will das alleine machen."
„Das ist ja ok, aber dafür kannst du dich ja auch im Schlafzimmer verkriechen. Du musst es ja nicht gleich offiziell ankündigen", meinte er lächelnd. Ich warf ihm einen unsicheren Blick zu, woraufhin er ein Seufzen von sich gab.
„Also...meinst du, dass...sollen wir gehen?"
„Ja bitte", flüsterte ich.
„Ok." Sudden stand auf, klopfte mir auf die Schulter und ging dann auf den Balkon zu den Anderen. Ich hörte, wie er ihnen etwas zu murmelte, Basti sich beschwerte und von Igor beschwichtigt wurde und dann war es plötzlich still im Haus. Ich fuhr mir über die Augen, atmete tief ein und wieder aus, ehe ich mein Handy wieder in die Hand nahm und Lukas' Nummer wählte.

POV Lukas
Berlin, jetzt
Je mehr ich Tims Anrufe ignorierte, desto trauriger wurde ich. Je mehr ich auf mein Handy starrte, desto frustrierter wurde ich – mit mir selber, mit Tim, mit der ganzen Situation, in der wir nun als Paar waren. Sollten wir noch ein Paar sein. Warum ruft er mich eigentlich an? Sollte nicht ich die Rolle des Verzweifelten übernehmen?
„Wer schreibt uns eigentlich vor, wer wie was wo tun soll...", murmelte ich, den letzten Anruf von Tim anstarrend. Nimm ihn an! Sonst wird eure Beziehung nie wieder so sein wie früher. Ich seufzte und beantwortete dann doch mein Handy.
„Verdammte Scheisse, was soll ich denn noch machen?", hörte ich Tim am anderen Ende der Leitung fluchen.
„Timi?"
„Oh. Hi."
„Hi." Dann schwiegen wir beide.
„Ich...", fing er an.
„Ich vermisse dich, Tim." Wieder Schweigen. Ich hörte ein herumkramen; Tim räusperte sich und atmete dann aus. Seufzend dachte ich, dass es das wohl nun wäre, dass es nichts mehr mit unserer Beziehung werden würde, dass er aufgegeben hätte und ich der Arsch war, der seine vorherigen Anrufe nicht entgegengenommen hatte.
„Ich vermisse dich auch, Lukas." Mein Herz klopfte auf einmal einen Tick schneller und ich fing an zu lächeln.

„Ich...ich will, dass das wieder gut wird zwischen uns beiden. Ich will...dass wir das wieder hinkriegen, Lukas. Und ich...bin dir auch nicht mehr böse wegen Matthias."
„Nicht mehr?"
„Nein. Naja, nicht mehr ganz so böse wie vorher." Das brachte mich zum lächeln.
„Das ist gut."
„Ja. Nur...ich...kann ich auch...also, um es auszubalancieren, kann ich auch mit jemanden schlafen? Jemand anderen?" Tim wollte mit jemanden anderen schlafen? Jemanden, der nicht ich war? Wütend durfte ich nicht sein. Ich hatte kein Recht dazu. Langsam und gedankenverloren nickte ich und versuchte, keinen Eifersuchtsanfall zu erleiden.
„Lukas, ist das ok? Oder nicht? Du bist so still geworden." Ich räusperte mich, atmete tief ein und sagte dann das, wovon ich dachte, dass Tim es hören wollte. Auch wenn es mein Herz brach.
„Natürlich darfst du das. Ist ja nur fair, wenn du...wenn du mit jemand anderen schläfst." Natürlich war ich zerknirscht, auch wenn es eben nur fair Tim gegenüber war und heuchlerisch wäre, wenn ich es ihm nicht erlauben würde. Sorgen darüber, ob er überhaupt einen passenden Partner für eine Nacht finden würde, musste ich mir nicht machen. Tim war immer schon der flirtende Typ gewesen: vor mir noch viel mehr als jetzt.
„Ok, dann...dann mach ich das. Irgendwann."
„Ja. Äh...irgendwie ist das alles ein wenig seltsam, nicht wahr?"
„Ja, schon, aber zumindest ist es dann bei mir erlaubt." Au. Der Seitenhieb tat weh. Und war auch gerechtfertigt. Generell war Tims Benehmen gerechtfertigt, bis auf die Schnelligkeit, in welcher er mir verziehen hatte, oder zumindest so getan hatte, als hätte er mir verziehen.

„Und, Tim?", merkte ich dann noch an.
„Ja?"
„Bitte keinen in unserem Freundeskreis."
„Gibt eh kaum Schwule."
„Ja, ich weiß, aber trotzdem." Er seufzte und ich spürte, dass nicht nur mir dieses Gespräch wahnsinnig unangenehm war.
„Tim, ich...mir ist schon klar, wie seltsam das hier für uns beide ist, und dass es vielleicht nicht zu jeder Beziehung gehört, ein Gespräch darüber zu führen, dass beide Partner einen anderen Mann ficken dürfen, aber ich hatte mir eigentlich erhofft, dass nun wirklich alles wieder gut sein wird zwischen uns, dass wir wieder glücklich sein werden, auch wenn wir uns erstmal wieder etwas annähern müssen. Was meinst du?"
„Ja, ich...nein, ich versteh dich schon, Luki, ich will doch auch wieder glücklich sein, aber irgendwie fällt es mir noch schwer, dir zu vertrauen. Also, ich vertraue dir schon, aber dann auch wieder nicht. Ach, fuck, ich...ich kann es mir einfach nicht erklären." Ich biss mir auf die Lippe, um nicht frustriert loszuschreien. Ja, verdammt, ich versteh dich doch! Aber trotzdem will ich, dass alles wieder gut wird. JETZT.
„Und...ich...äh...ach verdammte Scheisse, Lukas, ich liebe dich doch noch! Aber ich bin momentan gefühlsmäßig in so einer komischen Zwickmühle: einerseits will ich dir sofort verzeihen, ich will dich wiedersehen, ich will dich küssen, ich will mit dir Liebe machen. Andererseits habe ich das Gefühl, dass ich dir eben zu schnell verzeihe, dass ich vielleicht dann nochmal verletzt werde von dir, dass..."
„Ich will dich nicht nochmal verletzen."
„Du würdest mir nicht nochmal fremdgehen?" Ich schwieg ein paar Sekunden lang, was der Situation vermutlich nicht gerade half.
„Nein, Tim." Er seufzte am anderen Ende der Leitung. Ich lauschte und lauschte, wartete auf eine Antwort; eigentlich hatte ich entweder das Blubbern seiner Bong oder das Inhalieren eines Joints oder zumindest einer Zigarette erwartet, doch Tim schien diesmal komplett nüchtern zu sein.
„Lukas?"
„Ja?"
„Ich komme nächste Woche vorbei."
„Ich freu mich."
„Ich mich auch."

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