Kapitel 71

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POV Tim
Bielefeld, ein paar Tage später

Ich schreibe mit Lukas, über WhatsApp und Snapchat. Er fragt, wie es mir geht, was ich mache. Ich erzähle es ihm und wir reden, bis ich ihn frage, was er denn gerade mache. Er schickt mir ein Bild, auf dem er oben ohne im Bett liegt, und seinen Arm um den ebenfalls kein T-Shirt tragenden Matthias hat. Beide grinsen mich an, so, als wäre nichts falsch an dem Bild. Ich schreibe Lukas zurück, frage ihn, was zum Teufel er tue. Er meint nur, wieso? Wir seien doch nicht richtig zusammen, dass er und Matthias nur Spaß haben wollen, dass alles doch in Ordnung sei. Daraufhin schreibe ich Matthias, er solle die Finger von meinem Freund lassen, welcher auch so tut, als wäre alles in Ordnung und mir sagt, ich solle mich wieder einkriegen. Ich heule, ich schreie, ich schlage gegen die Wand. Und ich kann nichts tun, weil ich in Bielefeld wohne und Lukas in Berlin.

Daraufhin wachte ich schweißgebadet auf. Die Decke hatte sich unangenehm um mein rechtes Bein gewickelt, welches nun eingeschlafen war und mein Herz klopfte wie wild. Ich fuhr mir durch die Haare und versuchte mich aus der Decke zu schälen, ehe ich mir meine Brille holte und ins Bad ging. Als ich das Licht anschaltete, musste ich sofort die Augen zusammenpressen, so grell war es. Irgendwann ging es wieder und ich sah mich müde im Spiegel an. Ich sah mal wieder richtig Scheisse aus. Nachdem ich gestern Nachmittag nach Lukas' Interview abgehauen war und den nächsten Zug nach Bielefeld genommen hatte, hatte ich mein Handy ausgeschaltet. Ich wollte von niemanden kontaktiert werden, ich wollte einfach nur alleine sein. Wie konnte er mir das nur antun?, fragte ich mich ständig. Ich fuhr mir über den Bauch, über die Brust, den Nacken und dachte daran, dass Lukas und ich schon lange nicht mehr miteinander geschlafen hatten, dass wir schon lange nicht mehr richtig zärtlich miteinander waren. Wie denn auch, wenn beide ständig mit den Gedanken woanders waren? Ich seufzte und ging wieder in mein Schlafzimmer, wo ich einen Blick auf den schwarzen Bildschirm meines Handys warf. Lieber erstmal einen Kaffee bevor ich mit Nachrichten überflutet wurde.

Und kurz darauf fand ich mich am Küchentisch sitzend, die dampfende Tasse Kaffee in der Hand und das ausgeschaltete Handy vor mir. Ich nahm das Handy in die Hand, ließ meinen Daumen über den Start-Knopf schweben und entschied mich dann doch dagegen. Wieviel Uhr war es denn? Ein Blick auf die Küchenuhr verriet mir, dass ich nur bis acht Uhr geschlafen hatte. Morgens. Kein Wunder, dass ich mich so gerädert fühlte. Ich rollte die Augen, trank den Kaffee leer und setzte mich dann mit dem Handy auf die Couch, wo ich es auf meinem Oberschenkel liegen ließ. Und wenn es nicht so schlimm sein wird? Wenn die Nachrichten nur besorgt sein würden? Nein, Basti ist sicherlich stinksauer – der wird vermutlich die Mailbox mehrmals angeschrien haben. Etwas zittrig schaltete ich das Handy dann doch an, jedoch nicht ohne einen großen Schluck Whiskey zu nehmen. Es lud, es fuhr hoch, es wurde mit meinem WLAN verbunden und schon kamen die ersten Nachrichten rein. Fünfundsechzig waren es insgesamt, die meisten davon von Lukas.

Lukas, 17:20: Timi, bitte! Ruf mich zurück!
Lukas, 17:23: Schatz, es tut mir wirklich leid. Ich weiß, dass ich Scheisse gebaut habe und dass es dich verletzt hat, was ich da in dem Interview gesagt habe. Ich meinte das auch nicht so! Ich vermisse dich unendlich.
Lukas, 17:49: Ich will doch auch, dass alles wieder gut wird zwischen uns! Ich hätte doch nicht gedacht, dass das, was ich in dem Interview gesagt habe, dich so verletzen würde! Ich habe das doch nicht absichtlich gemacht.
Lukas, 18:30: Bitte antworte mir endlich.
Lukas, 18:58: Tim, ich mach mir Sorgen. Bist du gut angekommen?
Lukas, 19:59: Eine Stunde habe ich dir jetzt gegeben. Du musst mir sagen, ob alles ok ist. Ich mache mir wirklich Sorgen.
Lukas, 20:24: Timi, du musst echt mal dein Telefon beantworten! Wieso hebst du auch nicht zuhause ab?

Der Rest verlief ähnlich, bis auf die letzte Nachricht, welche mir Tränen in die Augen trieb.


Lukas, 00:20: Auch, wenn du noch keine meiner Nachrichten gesehen hast, will ich, dass du weißt, dass ich dich liebe. Ich liebe dich so unendlich, Tim, und ich will dich nicht verlieren. Es tut mir so leid.

POV Lukas
Berlin, jetzt
Nach dem Interview, nachdem Tim abgehauen war, kam Basti auf mich zu, nahm mich sanft und doch bestimmt am Arm und meinte, er würde mich nachhause fahren. Im Auto saßen wir dann schweigend, während im Hintergrund irgendein Deutschrap leise spielte. Solange es keine deprimierende Musik war, war ich glücklich. Das wäre ja noch schöner. Nach fünfzehn Minuten Schweigen räusperte sich Basti.
„Weißt du, Lukas, jeder hat sich immer für Tim geschämt – seine Mutter, sein Stiefvater, manchmal sogar seine Geschwister. Und auch wenn du dich nicht für ihn schämst, kommt es ihm trotzdem so vor, vor allem, wenn du den Medien vorgaukelst, du seist Single oder noch nicht mal schwul, verstehst du mich?"
„Ja."
„Und das verletzt ihn natürlich. Hättest du vorhin mit ihm darüber geredet, dass du eben nicht willst, dass die Medien auch nur irgendetwas über dein Privatleben wissen, dann wäre es sicherlich mit ihm in Ordnung gewesen. Aber das, was du heute veranstaltest hast, gepaart mit der Tatsache, dass du fremdgegangen bist, hilft dem Ganzen natürlich nicht." Ich sah traurig aus dem Fenster. Basti hatte definitiv recht. Aber jetzt war es ja schon passiert – ich war ihm ja schon fremdgegangen, ich hatte ihn ja schon im Interview verdrängt, wir hatten uns ja schon gestritten. Was sollte ich denn jetzt machen?
„Was ich dir vorschlagen würde, ist ihn anzurufen. Wenn er nicht abhebt, dann lass ihn zu dir kommen. Aber gib ihm Zeit. Tim ist sensibler als man denkt." Mit den Worten bog er in meine Straße ein und hielt vor meinem Haus.
„Ja, schon...ach, Basti, ich liebe ihn doch auch! Aber manchmal macht er es mir einfach nicht...einfach."
„Klar, aber so sind Beziehungen nun mal."
„Was weißt du denn von Beziehungen?"
„Mehr als du anscheinend. Also, hop, geh raus, verpiss dich." Etwas beleidigt warf ich ihm einen Blick zu, während ich die Autotür öffnete und ausstieg.
„Danke", meinte ich, als ich nochmal einen Blick ins Auto warf.
„Jaja, schon gut. Und triff dich auf keinen Fall mit Matthias!" In dem Moment schloss ich die Tür und ging ins Haus. Basti hatte ja recht. Er hatte immer recht.

Als ich in meiner Wohnung angekommen war, wusste ich nicht so recht, was ich mit mir selber anfangen sollte. Das war alles so deprimierend und frustrierend. Ich hatte sowas auch noch nie erlebt. Tim war der einzige Mann, den ich so lieben konnte, wie ich es tat. Er war der einzige Mann, bei dem ich auch nach ein paar Jahren Beziehung immer wieder Schmetterlinge im Bauch fühlte, wenn er vorbeikam oder, wenn ich vor seiner Tür stand und darauf wartete, dass er sie öffnete. Und trotzdem hatte ich ihn betrogen. Seufzend ließ ich meine Tasche auf den Boden fallen und setzte mich vor den Fernseher. Berlin Tag und Nacht, Germany's Next Topmodel, irgendwelche Kochshows, MTV Home, alles Scheisse. Genervt aufstöhnend haute ich auf den Aus-Knopf und ließ meinen Kopf über die Couchlehne hängen. Und jetzt? Erreichen konnte ich ihn sicherlich nicht. Aber ich konnte es trotzdem probieren. Ich schrieb Tim unzählige Nachrichten in den nächsten Stunden, rief ihn ständig an, nichts.


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