"Wusstest du das nicht?"

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Er sitzt da wie immer.
Gleichgültig.
Unberührt.
Distanziert.
Aber da ist ein neues Gefühl. Ich sehe es in seinen Augen. Ganz genau.
Sorge. Ganz klar. Eijun ist besorgt. Besorgt um... Um mich?
Blitzschnell wende ich meinen Blick ab. Ich darf nicht alles auf mich projizieren!
"Für einen Austauschschüler bis du ganz schön frech, Eijun." keift der Lehrer.
"Jetzt wird man auch noch auf so was reduziert. Als nächstes, dass ich-" Mitten im Satz stoppt Eijun. Lässt er sich wirklich von einem Lehrer das Mundwerk legen?
"Okay. Wer von euch geht jetzt von vor die Tür?"
Betretenes Schweigen von unserer Seite. Und somit geht der Unterricht weiter.
Langsam, aber sicher. Ich will einfach nur heim und alles vergessen.

Der Schulgong klingt heute wie Musik in meinen Ohren. Eigentlich will ich ja wissen, was mit Eijun war. Aber mein Auftritt heute in Bio war ja voll panne.
Diesmal bin ich derjenige, der die Sachen langsam zusammenräumt. Die meisten haben das Zimmer schon verlassen. Ich merke, dass jemand auf mich zugeht und vor meinem Platz stehen bleibt. Ich sehe auf und blicke in Yuus Gesicht. Yuu. Er ist nicht so kleinkariert wie manch andere in dieser Klasse.
Ich lächle leicht müde. "Was gibt's?"
"Du bist echt müde, oder?" Er lacht leicht und ich weiß sofort, dass es ein ehrliches Lachen ist.
Ich schmunzle, packe den Block in die Tasche und stehe auf.
Er legt den Kopf schief. "Das ist es doch...?"
"Mh, ja. Noch ein paar andere Faktoren, aber die sind-"
"Wahrscheinlich wegen Eijun, oder?"
Ich erstarre. Was? Wie kann Yuu in meinen Kopf schauen? Oder ist es so offensichtlich?
Ich frage nach. "Was meinst du?"
"Ajou. Ich bitte dich. So wie ihr euch angefreundet habt, kann es dir doch nicht egal sein, oder?"
Das verwirrt mich jetzt total. Ich schaue ihn nur fragend an. Weiß er etwa mehr als ich?
"Was meinst du? Was kann mir nicht egal sein?"
Er seufzt und richtet seine Tasche. "Eijun verlässt uns doch bald. Wusstest du das nicht?"
Schlagartig werde ich bleich.
Eijun verlässt unsere Klasse?
"E-Er wechselt die Klasse?"
"Ich glaub's nicht! Du weißt echt nichts davon. Nein, er fliegt zurück nach Irland. Aus irgendwelchen privaten Gründen. Er ist wahrscheinlich froh, dass er uns los hat. Wobei er wegen dir-"
Ich lasse ihn nicht ausreden. Sofort schnappe ich meine Tasche und sause aus dem Klassenzimmer in Richtung Ausgang.
Mein Unterbewusstsein nimmt ein lautes "Auf den Fluren wird nicht gerannt!" wahr, aber das interessiert mich jetzt nicht. Dafür bin ich viel zu sehr aus dem Wind.
Ich renne aus dem Schulgebäude Eijuns Heimweg entlang. Ich muss ihn unbedingt zur Rede stellen.
In meinem Kopf spielt sich unsere Szene auf der Aussichtsplattform ab. Wie er mir gesagt hat, dass er mich will und braucht.
Idiot! Verdammter Idiot! Hat er mich angelogen? Ist er wirklich so dreist?
Ich habe mich so selten in Rage erlebt. Aber ich kann und will es einfach nicht fassen! Ich habe ihm doch deutlich gesagt, dass ich ihn von einen auf den anderen Tag nicht verlieren will. Und jetzt erfahre ich durch einen Dritten, dass er schon bald abreist?! Ich spüre, wie mir Tränen in den Augen brennen, wobei ich das gar nicht will.
Dieser Mensch hat sich viel mehr mein Leben eingemischt, als mir lieb ist.
Als ich vor dem Haus seiner Tante stehe, bemerke ich erst, wie sehr ich außer Atem bin. Sport war noch nie wirklich meins.
Ich klingle und kurz darauf öffnet Frau Whelan mit einem Lächeln die Tür.
"Hallo Ajou, schön dich zu sehen!" empfängt sie mich.
"Hallo Frau Whelan. Ist Eijun schon daheim?" frage ich.
Sie antwortet nickend: "Ja. Er ist in seinem Zimmer. Komm ruhig rein."
Ich bedanke mich, betrete das gemütliche Haus und ziehe schnell meine Schuhe aus. Anscheinend hat sie jetzt erst bemerkt, dass ich direkt von der Schule hier her gekommen bin - ohne Zwischenstopp bei mir Zuhause. Sie sieht mich verwundert an, doch ich will jetzt einfach nur zu Eijun. Ich gehe die Treppen zu dem Gästezimmer hinauf. In fremden Wohnungen zu rennen, empfinde ich für unhöflich.
Ich hole tief Luft und klopfe zitternd an der Tür.
Nach einem leisen "Ja" betrete ich den Raum und blicke Eijun entgegen, der gerade einen Koffer packt. Es ist also wahr.
Meine Lippen zittern, während ich ihn ziemlich enttäuscht ansehe. Er erhebt seinen Oberkörper und sieht mir direkt ins Gesicht.
Ich spüre jetzt schon, dass das Gespräch unangenehm enden wird.

Der AustauschschülerUnde poveștirile trăiesc. Descoperă acum