Viele kleine Lichter

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Die klirrende Kälte verpasst mir eine Gänsehaut und in der Zukunft bestimmt eine Erkältung. Aber das interessiert mich nicht.
Wenn Eijun was passiert ist, bin ich sicherlich daran Schuld. Obwohl wir uns erst so wenig kennen... Quatsch, ich sollte nicht alles auf mich beziehen. Ich will ihm einfach nur helfen können.
Jetzt bin ich die ganze Zeit wahllos und in Gedanken versunken durch die Gegend gerannt und stehe jetzt irgendwo. Wo soll ich ihn überhaupt suchen? Der erste Anhaltspunkt, der mir einfällt, wäre die Schule. Ich sollte wirklich nicht groß nachdenken und einfach dort hin.
Ich war noch nie nachts auf dem Schulhof. Die Geschichten über eine schaurige Atmosphäre sind also nicht ausgedacht.
Langsam setze ich ein Fuß vor den anderen und wiederhole den Namen des Vermissten. Doch die Stille und die Ungewissheit hier ist bedrückend und füllt immer mehr meine Seele.
Unter der großen Eiche bleibe ich stehen und schaue in den Sternenhimmel. Wo könnte er bloß sein? Und jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Toller Abend.
Ich streiche über meine Wange, auf der der Regentropfen gelandet ist und schaue auf meinen Finger. Nur ein Tropfen? Ich hebe wieder meinen Kopf, um nach weiteren Tropfen zu suchen, die vom Himmel fallen.
Und es komen auch wieder welche.
Mehrere. Aus beiden Augen, tropfen auf den Boden.
Erbärmlich, aber ich will Eijun unbedingt wieder finden. Schluchzend reibe ich mir über die Augen und sehe die vielen Tropfen auf meinem Handrücken an. Wenn ich genau hinsehe, erkenne ich, wie sich die Sterne in den Tränen spiegeln.
Viele kleine Lichter am Tränenrand aneinander gereiht.
Und in der Mitte noch kleinere verteilt.
Ich reiße die Augen auf und renne vom Schulhof. Jetzt weiß ich, wo Eijun ist.
Ich werde langsamer, als ich einen kleinen Berg hochmarschiere.
Außer Puste bin ich auf einer Aussichtsplattform angekommen.
Am Rand stehen lauter Laternen, die die einzige Beleuchtung neben den Stadtlichtern aus der Ferne und dem Mond sind.
Eine Bank mit einer kleinen Überdachung in der Mitte, wo sich der Efeu herumschlingelt.
Hier scheint alles so unberührt, wobei ich mir mehr als sicher bin, dass mehrere Menschen an diesem wunderschönen, beruhigenden Ort gehen.
Und der Beweis ist hier.
Sitzt auf einem kleinen Mäuerchen, das die Aussichtsplattform vom Abgrund abtrennt.
Ich will mir gar nicht viele Gedanken darüber machen, wie ich darauf gekommen bin, dass Eijun hier steckt.
Und ich kann auch nicht beschreiben, wie unendlich glücklich ich bin ihn zu sehen und dass es ihm gut geht. Zumindest körperlich.
Aber wenn ich jetzt einen unerwarteten Laut von mir gebe, könnte er runterfallen. Wie gehe ich am besten vor?
Er scheint total in Gedanken versunken. Neben ihm eine Bierflasche, die leer zu sein scheint.
Ich nehme all meinen Mut zusammen, ich pack das schon irgendwie!
Langsam gehe ich auf die Mauer zu, was leise Geräusche durch die Splitsteine verursacht. Doch das scheint Eijun nicht zu bemerken.
An der Mauer angekommen, stütze ich mich mit meinen Unterarmen darauf ab und schaue, wie er, die vielen kleinen Lichter in der Ferne an.
"Atemberaubender Anblick, nicht wahr?" frage ich.
Oh Gott, ich habe völlig vergessen, warum ich eigentlich hier bin! Ich bin hier so selten, dass ich alles um mich herum ausgeblendet habe.
Nicht nur ich schien sich erschrocken zu haben.
Entgeistert schauen Eijun und ich uns an. Zumindest ist er nicht von der Mauer gefallen...
Ich rechne mit allen möglichen Antworten.
"Verpiss dich."
"Halt's Maul."
"Ja. Das letzte Mal war ich hier mit 10 als ich Streit mit meiner Tante hatte."
Ich schaue ihn an. Lange. Ich kann einfach nicht sagen, wie sehr er mich fasziniert.
"Meine Tante liegt mir sehr am Herzen und ich habe damals ziemliche Scheiße gebaut."
Nachdenkend reibt er sich über die Augen und trinkt etwas aus der Flasche. Danach wirft er sie den Abhang hinunter. Ja, sie war vorhin noch nicht ganz leer.
Ich muss schmunzeln. Hoffentlich ist dort unten niemand, den die Flasche treffen könnte.
Ich will ihn gerade was fragen, doch er redet weiter.
"Das ist erst das zweite Mal, dass ich hier bin."
Er schaut mich an und hüpft von der Mauer auf den festen, sicheren Boden.
In meinen Gedanken atme ich erleichtert aus.
"Eigentlich ziemlich schade" meine ich und schaue wieder gerade aus "Ich bin hier auch nicht oft. Dabei ist es hier so schön nachts."
Ich drehe wieder meinen Kopf zu Eijun, der urplötzlich neben mir steht. Ich habe gar nicht bemerkt, wie er sich angeschlichen hat.
"Hier bin ich wirklich nur, wenn mir was auf dem Herzen liegt."
Was will er mir denn damit sagen? Hat ihn das eine Bier schon so benommen gemacht?
Er tritt mir näher und greift sanft nach meinem Handgelenk.
"Oder jemand."

Der AustauschschülerWhere stories live. Discover now