Regentropfenwettrennen

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Als seine Tante die Tür öffnet, sehe ich von einem Moment auf den anderen nur einen Eijun, der zerquetscht wird.
"EI-EI-EIJUN!" ein tiefer Schluchzer unterbricht das Weinen der erleichterten Frau.
Eijun patscht ihre Schulter, so gut es geht und murmelt irgendwas auf Englisch, worauf sie ihn loslässt.
Sie wischt sich um die Augen und sieht mich zum ersten Mal.
Und urplötzlich werde ich auch zerquetscht.
"F-Frau W-"
Weiter komme ich nicht. Ein fester Drücker unterbricht meinen Atemweg. Was für eine Kraft diese zart aussehnde Frau hat!
"Bitte lass ihn doch los!" zischt Eijun. Nicht nur mir scheint das hier unangenehm zu sein. Schließlich lässt mich seine Tante los.
"Danke! Danke, danke, danke Ajou! Ich schulde dir so viel!"
Ich winke lächelnd ab und mache ihr klar, dass sie nicht in meiner Schuld steht. Immer wieder schiele ich kurz in Eijuns Richtung und jedes Mal schaut er mich immer noch an
Mit diesem ruhigen, prüfenden Blick, den nur er drauf hat.
"Ich muss auch wieder heim. Es ist ja schon spät und morgen ist ja Schule." beende ich das Gespräch.
Doch Frau Whelan entgegnet: "Kommt nicht in Frage, ich fahre dich heim. Du bist zwar ein Mann, aber hier laufen genügend seltsame Gestalten herum."
Ich konnte gar keine Widerrede leisten, da saß ich schon mit Eijun auf dem Rücksatz und ich teilte Frau Whelan meine Adresse mit, so dass sie sie in ihr Navi eingeben kann.
Wir fahren also los, um 23:13 Uhr, wie uns das Radio mitteilt. Um die Zeit würde ich normalerweise schon schlafen.
Stattdessen sitze ich im Auto einer halbfremden Frau, die mich heimfährt, nachdem ich ihren Neffen wieder gefunden habe.
Und warum Eijun abgehauen ist, weiß ich immer noch nicht. Fragen will ich ihn auch nicht, vielleicht ist es etwas zu privates, was mich nicht angeht.
Ich schaue den Regentropfen an der Fensterscheibe zu, wie sie ein Wettrennen zum unteren Teil der Scheibe vollziehen. Mit ihnen ziehen in meinem Kopf so viele Gedanken vorbei. Und das einzige, was ich über sie sagen kann, ist, dass jeder einzelne Gedanke sich nur um Eijun dreht.
Mein Herz pocht so stark deswegen, ich sollte mich irgendwie ablenken.
Doch mein Leben meint wohl, dass dieses Vorhaben schwierig werden soll, denn ich spüre eine warme Hand auf meiner.
Ich weite meine Augen und mein Kopf wird knallheiß. Ich weiß nicht mal, wieso das so ist!
Aus meinen Augenwinkeln schiele ich auf meine Hand und Eijuns, die meine umschließt.
Ich wage es, ihn anzusehen, doch in sein Gesicht blicke ich nicht. Er schaut aus dem Fenster, so wie ich es bis eben tat.
Hat er bewusst oder unterbewusst seine Hand auf mich gelegt? Hat er es überhaupt realisiert? Er schaut so gedankenverloren aus dem Fenster.
Oh Mann, schon wieder dreht sich in meinem Kopf alles nur um Eijun.
Ich bemerke, dass der Wagen hält und links neben mir ist mein Haus.
"Soo, da wären wir. Steinbeissstraße 13."
Ich lächle leicht. Ist sie vielleicht Taxifahrerin?
Eijun nimmt zögerlich seine Hand weg und sitzt sich gerader hin. Also war es doch Absicht gewesen.
"Vielen Dank für's Heimfahren." Sage ich, als ich mich abschnalle und die Tür öffne.
"Keine Ursache, schönen Abend noch, Ajou!" lächelt Eijuns Tante und Eijun nickt mir zu.
Ich verabschiede mich, gehe in mein Haus und höre, wie sie wieder wegfahren. Direkt nach mir, kommt meine Mutter in das Haus.
"Ajou! Wo warst du denn noch?" fragt sie erschrocken.
Ich ziehe meine Schuhe aus und entgegne: "Beim Briefkasten."
Das hätte ironisch klingen sollen.
Und das klang eher wie eine Ausrede.
Verdammt.
"Willst du mich auf den Arm nehmen? Deswegen ziehst du dich noch nicht mit Jacke und allem an! Wo warst du?"
Ich seufze.
"Beim Austauschschüler Eijun."
Sie starrt mich an. Mir ist das gerade super unangenehm.
"S-... Ja so spät noch? Du solltest schon im Bett liegen! Also... Alleine."
Das letzte Wort war so leise und unscheinbar, aber mir wird jetzt alles zu viel.
"Geht's noch?! Was soll der Kommentar denn?!" fauche ich sie an.
"Du warst noch nie so lange so spät draußen!" meint sie und hebt abwehrend die Hände.
Ich fasse es nicht. Warum denkt sie so was von mir?! Ich bin doch kein Typ für eine Nacht! Und überhaupt... Eijun und ich sind beides Jungs! Neineinein, vielleicht hat sie es auch einfach nur anders gemeint, als ich gerade denke.
Ohne ein weiteres Wort flüchte ich in mein Zimmer, ziehe mich schnell um, packe meine Sachen für morgen zusammen und lege mich ins Bett.
Diesen Tag will ich irgendwas zwischen vergessen und im Herzen behalten.

Der AustauschschülerWhere stories live. Discover now