Zwischenschock

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Am nächsten Tag verläuft vorerst alles wie gehabt. Keine besonderen Ereignisse. Den Kommentar meiner Mutter habe ich auch fast vergessen.
Fast.
Wenn ich daran denke, rege ich mir nur wieder auf, also lasse ich es bleiben.
Als ich Zähne putze und dabei aus dem Fenster schaue, fällt mir jetzt erst auf, dass es wie aus Eimern schüttet. Deshalb gehe ich zurück in mein Zimmer, um mir wärmere Klamotten anzuziehen. Später verabschiede ich mich von meiner Mutter und gehe zur Schule. Zum Glück haben wir heute erst zur zweiten Stunde.
Ich mag es eigentlich, wenn es regnet. Die verschiedenen Muster der verschiedenen Regenschirmen der verschiedenen Menschen anzuschauen, macht mir Spaß. Sich zu überlegen, ob die Personen das Motiv willkürlich oder gezielt ausgewählt haben.
Das klingt seltsam, das ist mir bewusst. Deswegen habe ich das auch niemanden erzählt.
Deshalb lächle ich bloß vor mich hin und komme dem Gymnasium immer näher. Wenn ich meinen Kopf hebe, meinen orangenen Regenschirm betrachte, sehe ich, wie ein Regentropfenwettrennen wie gestern stattfindet. Nur auf meinem Schirm, nicht an der Fensterscheibe des Autos von Eijuns Tante.
Eijun.
Das war gestern wirklich seltsam. Aber auch schön. Bei dem Gedanken muss ich noch mehr lächeln. Ich bin tatsächlich richtig froh, dass er hier an die Schule gekommen ist. Ich weiß ja jetzt schon, dass diese Zeit viel zu schnell vorbei gehen wird. Das tun schöne Zeiten immer. Und ich habe bis heute nicht herausgefunden, wie ich sie genießen kann.
Erst, als ich die Uhrzeit von der großen, eisernen Uhr an der Schulgebäudenwand ablese, bemerke ich, wie früh ich mal wieder bin. Aber ich bin nicht der einzige auf dem Hof.
Da steht auch Eijun. Ohne Schirm.
Den Kopf gesenkt, die Augen wahrscheinlich geschlossen. Er ist pitschnass und die Regentropfen fallen nur so von seinen Haarsträhnen auf den Boden.
Er sieht ziemlich niedergeschlagen aus. Ich will mir gar nicht ausmalen, warum er so zerstört scheint.
Ich bewege mich langsam in seine Richtung und mit jedem Schritt steigt die Sorge in mir.
Eijun hebt seinen Kopf, schaut direkt in den grauen Himmel.
Ich bleibe stehen und betrachte seinen durchnässten Körper.
Mein Nebensitzer lässt den Kopf im Nacken, dreht ihn aber in meine Richtung und sieht mir emotionslos, wie fast immer, in meine Augen.
Seine grauen Augen ziehen mich wieder so in den Bann, dass ich meinen Blick nicht von ihm lassen kann.
Wir stehen also nebeneinander, ohne ein einziges Wort zu wechseln. Ich mit Sorgen gefüllt, meinem orangenen Schirm und er ohne jeglichen Schutz vor dem Regen. Es scheint wieder so, als würde er meine Seele, meine Gedanken und Gefühlen zuscannen.
Ich gehe zu ihm und hebe den Schirm so hoch, dass wir beide keinen Regen abbekommen. Er hat sich keinen Millimeter bewegt.
Fragend schaue ich ihn an und erwarte eine Erklärung. Und ich denke, er weiß das.
"Weißt du, warum ich den Regen mag, Ajou?" fragt er mich aus dem Nichts und nimmt den Blick von mir.
So sehr ich auch etwas entgegnen möchte, der Kloß in meiner Kehle hält mich davon ab.
"Er zeigt dir die Grausamkeit der Welt." beantwortet Eijun seine eigene Frage und sieht mich aus den Augenwinkeln an.
Und da ich uns beide mit dem Schirm vor dem Schauer schütze, weiß ich, dass der Tropfen auf seiner Wange kein Regen ist.

Der AustauschschülerWhere stories live. Discover now