Angebot und Annahme

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Langsam bleibe ich stehen und noch langsamer drehe ich mich zu ihm. Ich sehe schon in sein Gesicht. Er muss ganz schön sportlich sein, denn sein Ruf kam von weiter weg. Und innerhalb dieser kurzer Zeit ist er zu mir gerannt.
"Was ist?" frage ich kleinlaut.
"Das neue Englischthema gibt dir zu schaffen, hm?"
Ich nicke zustimmend. Das war ja im Unterricht kaum zu übersehen.
"Willst du jetzt zu mir kommen? Dann kann ich es dir erklären. Meine Tante ist eh arbeiten." meint er lässig.
Wow. Damit habe ich nicht gerechnet.
Ich lächle erleichtert. Ein Stein fällt von meinem Herzen. Also hält er mich gar nicht für lächerlich oder sonst was.
Dass ich erleichtert bin, sieht man mir wahrscheinlich an, denn er lacht.
Nochmal. Dieses fröhliche, herzliche Lachen.
"Also ja?" grinst er.
Ich nicke. "Ja, vielen Dank!"
"Kein Problem. Dafür kannst du mir ja dann in Französisch helfen. Haben wir ja abgemacht."
Bilde ich mir das ein oder ist er wirklich nur zu mir so freundlich?
Wir laufen zurück und biegen an einer anderen Stelle ab, um zum Haus von Eijuns Tante zu gelangen.
Meine ganzen Zweifel waren also unberechtigt. Ich fühle mich einfach schlagartig wohl.
Eijun holt seinen Schlüssel aus der Hosentasche und schließt die Haustür auf.
Irgendwie habe ich keine Bedenken, einfach ein fremdes Haus zu betreten. Eijun wird mir ja wohl kaum etwas antun. Meine Mutter ist auch nicht daheim, deswegen habe ich ihr nicht Bescheid gegeben. Und wenn sie etwas braucht, wird sie sich ja bei mir melden.
Wir betreten das Haus und ziehen unsere Jacken und Schuhe aus.
"Deine Jacke kannst du da hinhängen und die Schuhe da hinstellen." sagt er und zeigt an zwei Plätze.
Ich mache, was er sagt und auch selber tut.
Eijun geht vor und ich folge ihm, während ich mich mit Blicken ein wenig im Haus umsehe. Alles ganz normal.
"Hast du hier dein eigenes Zimmer?" frage ich.
Er antwortet: "Meine Tante hat ein Gästezimmer, das aber eigentlich nur ich benutze. Also ja, man kann es eigentlich schon mein Zimmer nennen."
Und so betreten wir 'sein' Zimmer.
"Willst du etwas trinken?"
"Ja, gerne."
Er geht wieder runter in die Küche und ich sehe mich etwas in seinem Zimmer um.
Gehe zum Schreibtisch, schaue Bilder an der Wand an, sehe aus dem Fenster. Alles eigentlich ziemlich ordentlich. Okay, er ist auch erst neulich angereist. Dass man da alles verwüstet wäre schon eine Meisterleistung.
Irgendwie muss ich die ganze Zeit lächeln. Ich habe mir sein Zimmer anders vorgestellt. Dunkler, etwas unordentlicher. Aber es ist ja nicht mal sein eigenes Zimmer.
Er kommt mit zwei Gläsern Cola wieder und ich nehme ein Glas dankend an.
"Na? Hast du überall schön rumgeschnüffelt?"
Ich schüttle grinsend den Kopf und nehme einen Schluck und stelle dann das Glas auf den Tisch ab.
Ich zeige auf ein Bild an der Wand. Darauf sieht man ein kleines Kind, das seinen Finger auf die Schnauze von einem Hund legt und strahlt.
"Wer ist das, wenn ich fragen darf?"
Er schmunzelt. "Ich."
Ich muss ein langgezogenes Aw unterdrücken. Das wäre sonst ziemlich komisch rübergekommen.
"Du darfst ruhig lachen. Aber meine Tante ist strikt dagegen, dass dieses Bild abgehängt wird."
"Ich will nicht lachen" gebe ich ehrlich von mir "Ich finde es sogar irgendwie putzig".
Ich lache kurz und kratze mich am Hinterkopf.
Er schaut mich lange an.
Wow. Wenn sich eine Sorge erledigt hat, kommt die nächste. Was denkt er jetzt bloß über mich?!
Ich versuche, schnell ein Themawechsel anzufangen.
"Wie dem auch sei, wollen wir mit Englisch beginnen?" sage ich so lässig wie möglich.
Er nickt und wir setzen uns an einen kleinen Tisch und holen unsere Englischsachen raus.
Eijun fängt bei 0 an langsam zu erklären und ich muss schon sagen, dass mir das neue Thema immer mehr einleuchtet.
"Gibst du in Sligo auch Nachhilfe? Im Erklären bist du echt super!" sage ich begeistert, ohne den Blick von meinem Block zu heben und mit Schreiben aufzuhören.
Er trinkt einen langen Schluck von seiner Cola und verneint meine Frage.
Nach gewisser Zeit habe ich auch das Thema verstanden und lege zufrieden den Kugelschreiber zur Seite.
Wie eine erwachende Katze strecke ich meine Arme von meinem Körper weg und trinke. Der Tag ist doch gut gelaufen.
"Und was verstehst du in Französisch nicht?" frage ich und schaue ihn dabei freundlich lächelnd an.
Er schaut aus dem Fenster.
Schämt er sich?
Es scheint eher so aus, als hätte er meine Frage nicht gehört. Deswegen wiederhole ich sie.
Er schüttelt etwas seinen Kopf und schaut mich an, als wäre er gerade erst aufgewacht.
Ich kann nicht anders, ich muss lachen.
"Wo warst du denn mit deinen Gedanken? So ein krasser Tagträumer bin nicht mal ich!"
Mein Gegenüber schaut mich weiterhin verschrocken an. Aber irgendwann lacht er kurz auf und schaut lächelnd auf sein Heft.
Er sieht auf einmal sehr zerbrechlich aus. Als wäre er aus feinstem Glas, das man ja nicht fallen lassen darf, da es sonst in tausend Teile zerbrechen würde. Wie geheimnisvoll Eijun doch sein kann...
Aufgrund seinem jetzigen Erscheinungsbild lasse ich besser die Fragerei.
"Danke, dass du es mir erklärt hast. Wirklich, es hat mir sehr geholfen."
Er schaut mich an und nickt.
Ich merke, wie er wieder ernster wird.
"Wieso hast du das zu Ilaria gesagt?" fragt er aus heiterem Himmel.
Ich hätte es doch wissen müssen, dass so was noch kommt.

Der AustauschschülerWhere stories live. Discover now