Der Geschichtenerzähler

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Ich nicke.

„Ich will zu dem Ort mit den Pilzen zurück. Da wurde Luigi wenigstens nicht von Feuerbällen geröstet", schmolle ich, was Dylan dazu bringt ungläubig und gleichzeitig grinsend mit dem Kopf zu schütteln.

„Du musst ins Bett, Tyler", ermahnt Dylan seinen Bruder, was Tyler jedoch nur dazu bringt genervt aufzustöhnen.

„Es ist aber erst viertel vor Neun", beschwert er sich Tyler lautstark, wobei Dylan ihm einen warnenden Blick zuwirft.

Ich muss unweigerlich schmunzeln. Es ist lange her, als ich diese Situation zuletzt mit Cora hatte.

Meine Finger fahren unweigerlich über das von ihr gebastelte Lederarmband und manchmal frage ich mich, was mit ihrem passiert ist. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass man es ihrer Leiche womöglich abgenommen hat.

„Und trotzdem werde ich dich morgen um halb sechs aus dem Bett schmeißen, wenn du jetzt nicht ins Bett gehst." Dylan zwinkert mir beinahe verschwörerisch zu, wobei es offensichtlich ist, dass er hofft Tyler so pünktlich zum Schlafen gehen zu bewegen.

Er hockt noch immer mit seinem Controller vor der Wii, bereit das nächste Level zu beenden. Luigi ist aufgrund von Dylans Talent mich von allem und jedem abzulenken, einmal mehr gestorben.

„Als ob du so früh aufstehen würdest", erwidert Dylans kleiner Bruder und grinst fast schon zufrieden.

„Keine Angst, dafür sorge ich schon." Die Worte sind raus, bevor ich auch nur versuchen kann sie zurückzuhalten und dennoch hätte ich mir am liebsten sofort auf die Zunge gebissen. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist ihm noch einmal aus der Patsche zu helfen, vor allem weil ich damit gleichzeitig mehr preisgebe, als ich eigentlich wollte.

„Schläfst du eigentlich immer noch auf der Matratze?" Es gefällt mir nicht wirklich, dass Tylers Antwort praktisch ins Schwarze trifft.

„Dylans Bett ist zu schmal für uns beide", entgegne ich schnippisch, hoffend, dass man die Wahrheit nicht sofort aus meinen Worten heraus hört.

Ich kann es ihm nicht sagen. Ich kann Dylan nicht sagen, wie wichtig er mir eigentlich ist und das ich dennoch gehen werde. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich ihn genauso vermissen werde, wie er es von sich behauptet hat, obwohl ich noch nicht einmal weiß, was mich nach meinem Sprung erwartet.

Vor einer Woche habe ich auf gnadenlose Dunkelheit gehofft. Darauf, dass meine Existenz einfach erlischt, dass ich einfach aus diesem Universum ausradiert werde. Inzwischen wünsche ich mir, dass es nur die schlechten Erinnerungen sind, die einfach verschwinden. Die an meine Kindheit, an Stephs Alkoholsucht und Coras Tod, aber dann würde ich auch nicht mehr wissen, wie diese eine letzte Woche mit Dylan zustande gekommen ist. Wie ich mich ernsthaft in diesen Typen verknallt habe, der nicht ganz so ein Idiot ist, wie alle anderen und dessen Lächeln ich irgendwie auch ganz süß finde.

Halt die Klappe, Grace. Fehlt nur noch, dass du auch noch schizophren wirst.

„Liest du mir dann wenigstens etwas vor?" Tyler hat sein Spiel gestoppt und sieht abwechselnd zu mir und Dylan. „Eine Gute-Nacht-Geschichte? Seit Grace hier ist interessierst du dich nämlich nur noch für sie."

Ich spüre ihn noch immer neben mir. Theoretisch bräuchte ich nur die Hand ausstrecken, um seine zu berühren, doch ich halte mich zurück. Ich kann es nicht. Nicht hier. Nicht vor Tyler.

Und dennoch weiß ich nicht, was ich davon halten soll, dass er mich seinen Geschwistern vorzieht.

Dylan seufzt. „Welche soll es sein?"

„Die, die Mum uns immer vorgelesen hat", antwortet Tyler und legt seinen Controller endgültig zur Seite. „Und sag Allison, dass sie auch kommen soll, okay?"

Er lächelt und ich weiß, was er meint. Er will die alten Zeiten zurück. Die Zeit von der Dylan mir erzählt hat. Die Zeit in der er und Allison jeden Abend eine Gute-Nacht-Geschichte zu hören bekommen haben, als ihre Mutter noch da war. - Ich frage mich, ob er weiß, dass es nie wieder genauso sein wird, wie es einst war.

„Nur, wenn du vorher mit geputzten Zähnen und Schlafanzug im Bett liegst."

„Versprochen", gibt er sich geschlagen und schafft es schließlich aufzustehen und zumindest seine Wii auszuschalten. „Aber nur, wenn Grace auch dabei ist."

Eine Viertelstunde später hocke ich neben Dylan am Fußende von Tylers Bett. Allison hat es sich im Schneidersitz auf Tylers Sitzsack gemütlich gemacht und irgendwie kann ich nicht anders, als ihre Rentier-Puschen zu bewundern.

Ich weiß nicht einmal, weshalb Tyler ausgerechnet diese verfluchte Geschichte hören wollte, muss allerdings zugeben, dass Dylan ziemlich gut im Gute-Nacht-Geschichten vorlesen ist. Soweit man in so etwas eben gut sein kann.

Der Raum ist in das schummerige Licht von Tylers Nachttischlampe getaucht und irgendwie wirkt er durch die ganzen Decken und Kissen, beinahe so gemütlich wie Dylans Zimmer. Es ist fast so, als wäre endlich einmal alles gut oder zumindest für diesen Augenblick gut genug. Einen Augenblick in dem ich dazu gehöre.

Dylan liest weiter, Tyler liegt in seinem Bett, Allison hockt daneben und ich muss nahezu zufrieden zu lächeln, ehe ich näher an ihn heran rücke.

Auf das, was warWo Geschichten leben. Entdecke jetzt