Tag 61 // Tag 60

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Tag 61

Am nächsten Tag wachte ich früher auf als sonst. Ich war hellwach und starrte an die Zimmerdecke. Es war eine Stunde, bevor mein Wecker eigentlich klingeln sollte und da ich nicht mehr schlafen konnte, stand ich auf. Ich tappte barfuß nach unten. Auf halbem Weg hörte ich meine Eltern leise streiten.

»Wie konnte das passieren?«, flüsterte mein Vater hektisch. »Wieso weiß jeder, dass Jolina krank ist?«

»Ich weiß es nicht!«, antwortete meine Mutter. »Ein Mädchen saß im Wartezimmer. Sie muss uns gehört haben. Ich glaube, es war-« Meine Mutter senkte die Stimme und ich konnte sie nicht mehr verstehen. In mir machte sich eine böse Vorahnung breit. Wie betäubt lief ich weiter die Treppen nach unten und trat durch die Küchentür. Mum stand in ihrem Morgenmantel und einer Kaffeetasse in der Hand am Tisch, während mein Vater am Tisch saß und die Zeitung vor sich liegen hatte. Beide sahen auf, als sie mich bemerkten.

»Jo«, setzte meine Mum sofort an, aber ich hob eine Hand, um ihr zu zeigen, dass ich etwas zu sagen hatte.

»Habt ihr was damit zu tun, dass jetzt jeder über mich Bescheid weiß?«, fragte ich und merkte zu meinem Entsetzen, wie meine Stimme zitterte. Meine Mum zögerte. Aber das reichte. Ich griff mir bestürzt an den Mund und wandte mich ab.

»Jo, es war ein Versehen«, verteidigte mein Vater meine Mutter. Ich fuhr herum.

»Ein Versehen, ja? Wisst ihr überhaupt, wie beschissen es mir jetzt geht? Alle sehen mich an, als ob-«, ich stockte und lachte bitter, »ja, als ob ich gleich sterben würde.«

»Ich habe mit Direktor White nur darüber gesprochen, dass es vielleicht besser wäre, wenn die übrigen Lehrer eingeweiht werden, nur im Falle eines Notfalls«, sagte Mum und stellte ihre Tasse auf den Tisch. Sie wollte auf mich zukommen, aber ich wich zurück.

»Ich will nicht, dass die anderen Lehrer das wissen«, meinte ich und schluckte schwer. »Und vor allem wollte ich nicht, dass die Schüler das erfahren. Wie konntest du zulassen, dass er es öffentlich macht?«

»Ich habe dem Direktor nicht gesagt, dass er es öffentlich machen soll, das schwöre ich!«, rief und drückte ihre Hand an ihre Brust. »Man hat uns gehört. Derjenige hat es offenbar weitererzählt. Durch das ganze Facebook und all die anderen sozialen Medien geht das doch schnell.«

»Wer war es?«, wollte ich wissen. Mum presste die Lippen aufeinander.

»Ich kenne das Mädchen nicht.« Das war eine Lüge. Ich war mir sicher, dass sie vorhin einen Namen genannt hatte. Aber ich nickte nur, drehte mich um und lief wieder nach oben. Dort zog ich mich um. Als ich wieder nach unten rauschte, rief mir meine Mum wehklagend hinterher, aber wie jeder Vorzeigeteenager ignorierte ich sie. In Windeseile raste ich zur Schule. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, meine Karre abzuschließen.

Als ich in das Sekretariat marschierte, wollte die Sekretärin gerade protestieren, als sie mich erkannte. Ohne Zweifel kannte auch sie nun die Wahrheit.

Ich bin Jo, der Freak, der gefallene Engel und es wurde Zeit, Lucifer zu spielen.

Ich lächelte die Frau also nur überheblich an, bevor ich die Tür zum Direktor aufstieß. Dieser telefonierte gerade und blickte auf, als ich im Türrahmen, wie Rambo stand. Kurz musterte er mich, bevor er mir zunickte.

»Ja, ja natürlich. Hören Sie, ich rufe zurück, ja?« Dann knallte er den Hörer auf die Gabel, ohne auf eine Antwort zu warten. Seine Halbglatze glänzte im Licht.

»Jo, wie schön, dich zu sehen. Was kann ich für dich tun?«, fragte er und verschränkte die Finger ineinander. Er lächelte lieb. Trotz allem war er ein guter Mann.

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt