Tag 89 // Tag 88

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Tag 89

Der Schmerz riss mich aus dem Schlaf.

Ich spürte, wie ich das Bewusstsein erlangte, so als würde man aus einer großen Tiefe auftauchen. Als ich die Oberfläche durchstieß, blendete mich der Schmerz. Ich nahm nichts anderes wahr, außer dieser Höllenqualen. Instinktiv rollte ich mich zusammen, zog die Beine an den Bauch und hoffte, bettelte, dass der Schmerz nachlassen würde. Ich konnte nichts tun, konnte mich nicht ablenken, ich konnte nur darauf warten, dass er nachließ. Was er nicht tat.

Träge nahm ich wahr, dass ich schrie. Kurz darauf stürzte meine Mutter ins Zimmer. Dann wurde alles schwarz.

Später wachte ich in der Klinik auf. Die weißen Wände, die weiße Bettwäsche und das monotone Piepen waren mir vertraut. Ich regte mich und spürte einen Sauerstoffschlauch in meiner Nase. Eine Infusionsnadel steckte in meinem Handrücken. Mein Herzschlag wurde unregelmäßig und es dauerte nicht lang, bis eine Schwester in mein Zimmer kam. Sie sagte mir, meine Eltern wären zuhause, um mir alle nötigen Sachen zu holen, und ich solle weiterschlafen. Ich nickte benommen und driftete wieder in den rettenden Schlaf ab.

Den Tag verbrachte ich mit verschiedenen Untersuchungen. Ich machte ein CT, ein MRT und ein PET-Scan.

Jetzt wartete ich in meinem Bett auf meinen Arzt. Und tatsächlich, eine Minute später stand Dr. Daniel Harper an meinem Bett.

»Jo«, begrüßte er mich. »Wie geht es dir?« Sein grau meliertes Haar stand wirr vom Kopf ab, was darauf schließen ließ, dass er schon eine lange Schicht hinter sich hatte.

»So wie immer«, nuschelte ich. Der Doktor kannte mich jetzt schon so intensiv von den vielen Krankenhausaufenthalten, dass ich ihn garantiert Danny nennen konnte, ohne dass es komisch wirkte. Dr. Harper nickte sachlich.

»Deine Mutter und dein Vater kommen gleich«, informierte er mich. »Ich habe schon mit ihnen telefoniert.« Ich nickte bloß. Der Mann Mitte fünfzig seufzte und setzte sich auf einen Stuhl neben meinem Bett. Das ließ meine Alarmglocken schrillen.

»Es ist schlimm, oder?«, flüsterte ich. Er nahm seine Brille ab und fuhr sich über die Augen. Plötzlich sah er um Jahre gealtert aus.

»Als wir das letzte Mal ein CT machten, war das Glioblastom in deinem Kopf vielleicht so groß wie eine Walnuss. Und die Bestrahlung im Sommer gab uns Hoffnung auf etwas mehr Zeit«, begann er.

»Sie sagten ein halbes bis ein ganzes Jahr.« Ich wollte nicht hören, was der Doktor gleich aussprechen würde. Panisch sah ich ihn an.

»Ja, das sagte ich«, stimmte der Arzt zu. Dann stieß er die Luft aus und setzte eine ernste Miene auf. »Aber er ist gewachsen, Jo. Du hast wieder einen Tumor in deinem Gehirn. Und er ist größer diesmal. Diese epileptischen Anfälle, die dich überkommen, werden immer schlimmer und immer länger. Dein Körper macht das nicht länger mit. Und sie sind völlig unvorhersehbar.« Er sprach das Unvermeidliche nicht aus, aber ich wusste, was er mir sagen wollte.

»Und wie lange habe ich noch?«, flüsterte ich und Tränen stiegen mir in die Augen. Dr. Daniel Harper ließ den Kopf hängen, bevor er mich ansah.

»Ein paar Monate. Ich schätze circa drei. Vielleicht auch weniger.« Resigniert schloss ich die Augen.

»Ich könnte also jeden Moment tot umfallen?«

»Wir glauben, dass die Attacken ab jetzt in kürzeren Abständen kommen, bis dein Körper kapituliert. Irgendwann werden die Schmerzen so stark sein, dass du das Bewusstsein verlierst und nicht wieder aufwachst«, erklärte er.

»Es wird also nicht friedlich sein?«, fragte ich bitter.

»Wir werden dafür sorgen, dass du nichts spürst. Wir werden dir Schmerzmittel verabreichen, um es dir so erträglich wie möglich zu machen«, versprach Dr. Harper.

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt