Kapitel 51

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P.O.V Ju

Das war also das letzte Mal, dass ich meine Familie gesehen habe. Ich frage mich, wie sie reagieren werden, wenn sie von meinem Tod erfahren. Wobei, eigentlich will ich mich das gar nicht fragen. Eigentlich will ich jetzt gar nicht an meine Familie denken, vor allem nicht an meine Eltern. Der Gedanke an ihre Reaktion, macht die ganze Sache für mich nämlich nicht unbedingt einfacher. So gut es geht, versuche ich an etwas anderes zu denken, um mein langsam größer werdendes schlechtes Gewissen zu verdrängen. Ich bin mittlerweile wieder zurück in Köln und sitze am Rheinufer. Nicht an meinem gewöhnlichen Lieblingsplatz, sondern ein paar hundert Meter weiter, geschützt und abgeschirmt von Bäumen und Büschen. Ich weiß, dass Cheng mich zuerst am Rhein suchen wird, deshalb kann ich mich nicht einfach da hinsetzen, wo er mich sofort finden würde. Hier zwischen den grünen Gewächsen, wird er hoffentlich nicht nach mir suchen.
Meine Finger umschließen das kühle Glas der Flasche, die neben mir im Gras steht. Langsam führe ich sie zum Mund und nehme einen tiefen Schluck. Ein bitterer, reizender Geschmack breitet sich in meinem Mund aus und als ich die Flüssigkeit schlucke, wird mir ganz warm, als hätte man ein Feuer in meiner Speiseröhre angezündet. Wodka. In letzter Zeit habe ich viel zu viel davon getrunken. Nie viel auf einmal, aber oft kleine Mengen. Teilweise täglich. Mehrmals. Der Alkohol lässt mich alles vergessen. Was kann ich denn dafür? Jeder braucht doch etwas, das den Schmerz verschwinden lässt, oder?
Ich stecke meine freie Hand in meine Jackentasche und hole eine Zigarette und mein Feuerzeug heraus. Jetzt kommt es schließlich auch nicht mehr darauf an, ob ich meine Lunge kaputt mache oder nicht. Krebs bekommen kann ich nicht mehr. Noch ein Punkt, der für Selbstmord spricht. Grinsend über meine dummen Gedanken, stecke ich mir die Zigarette in den Mund und zünde sie an. Ich nehme einen tiefen Zug und merke, wie sich meine Lunge mit dem giftigen Rauch füllt. Ich halte die Luft an, halte den Rauch für einige Sekunden in meinem Körper und atme erst aus, als mir schwindelig wird. Ich fühle mich gut, irgendwie frei. Weil ich weiß, dass ich bald keine Sorgen mehr haben muss. Ich muss mir über nichts mehr Gedanken machen, weil ich den morgigen Tag sowieso nicht mehr erleben werde. Wenn ich so darüber nachdenke, wie ich mir sonst über die unwichtigsten Dinge den Kopf zerbrochen habe, ist es jetzt fast schon schön, zu wissen dass ich bald sterbe. Weil ich zum ersten Mal in meinem Leben einfach den Moment genießen kann. Ich denke nicht über die Zukunft nach, weil es in meinem Leben keine Zukunft mehr geben wird. Ich denke nicht über die Vergangenheit nach, weil sie nicht mehr wichtig ist. Alles was zählt ist die Gegenwart.

Ich nehme einen weiteren Zug von meiner Zigarette und schaue auf mein Handy. Die unzähligen Nachrichten von Cheng ignoriere ich gekonnt und werfe stattdessen nur einen Blick auf die Uhr. 22:30. Ich sitze schon seit geschlagenen drei Stunden hier und denke nach. Irgendetwas sagt mir, dass es langsam Zeit wird, mich auf den Weg zur Brücke zu machen. Mein Plan ist es, in einem unbeobachteten Moment über das Geländer zu steigen. Ich weiß nicht genau, ob es funktionieren wird, da um diese Zeit leider noch viele Menschen draußen unterwegs sind, aber ich werde es versuchen. Also stehe ich auf und gehe ein paar Schritte, die Wodkaflasche immer noch in der Hand. Erst jetzt spüre ich den Alkohol und es fällt mich schwer mich auf den Beinen zu halten und geradeaus zu gehen. Doch irgendwie schaffe ich es dann doch zur Brücke. Dort angekommen halte ich mich zitternd am Geländer fest und schaue auf den Rhein. Der Mond spiegelt sich in der Wasseroberfläche und lässt sie glitzern. Es ist Vollmond. Eigentlich ein schönes Bild, was ich vor mir sehe. Das schimmernde, dunkle Wasser unter mir, der Mond, der mich schon immer so sehr fasziniert hat, über mir. Ich hätte mir keine bessere Nacht zum Sterben aussuchen können. Und doch spüre ich, wie mich etwas zurück hält. Ich weiß nicht genau was es ist, aber der Gedanke, dass mein Leben jetzt gleich vorbei sein wird, fühlt sich doch etwas komisch an. Eigentlich wollte ich noch so vieles machen; in ferne Länder reisen, einen eigenen Film drehen, anderen Menschen helfen. Und jetzt stehe ich hier und bin kurz davor, zu springen. Will ich das wirklich? Gibt es vielleicht doch eine andere Lösung? Was ist wenn es schief geht, wenn ich überlebe? Bin ich dann ein Krüppel, der vielleicht für immer und ewig an den Rollstuhl gefesselt ist? Werde ich dann überhaupt jemals eine zweite Chance bekommen, mein Leben zu beenden? Angestrengt denke ich nach... "Nein." Ich spreche das Wort laut aus, als könnte ich mich so eher davon überzeugen, dass mein Leben jetzt zu Ende gehen muss und dass es keine andere Lösung gibt. Es wird nicht schief gehen. Ich werde nicht überleben. Ich DARF nicht überleben... Vorsichtig setze ich einen Fuß auf das Geländer und spüre sofort, wie meine Augen zu tränen beginnen. Jetzt ist es also soweit. Meine Hände klammern sich an dem kühlen Metall fest, sodass meine Knöchel schon weiß werden und ich schließe innerlich mit allem ab, was mir noch durch den Kopf geht. Gerade als ich mich in Absprung-Position begeben will, höre ich wie jemand meinen Namen ruft. Im ersten Moment denke ich an Cheng und spüre, wie sich mein Herz krampfhaft zusammenzieht. Doch als ich mich umdrehe, kommen zwei Mädchen auf mich zu. Ich schätze sie auf etwa 14 Jahre und wundere mich, warum sie so spät abends noch draußen unterwegs sind. Ich trete ein Stück vom Rand der Brücke weg, da ich den Verdacht habe, dass die zwei Fans sind. Ich will nicht, dass sie mich so sehen. "Hey Ju!" Ruft eine von ihnen aufgeregt, als sie bei mir ankommen. Erst als sie meine verheulten Augen und die Wodkaflasche auf dem Boden sehen, werden sie still. Ich blicke sie an und frage mit brüchiger Stimme, ob sie ein Foto machen wollen. Ich könnte mir gerade eine scheuern, dafür dass ich mich nicht zusammenreißen kann. Was müssen die denn von mir denken?! Ich stehe mitten in der Nacht total betrunken und verheult auf der Brücke und sehe aus wie der letzte Assi. Irgendwie erwarte ich schon, dass sie irgendeine Bemerkung machen oder am besten noch schreiend davon laufen, aber zu meiner Verwunderung, streckt mir das eine Mädchen nur zögernd ihr Handy hin, damit ich ein Foto machen kann. Mit zittrigen Fingern nehme ich es und versuche ein Bild zu machen. Doch ich schaffe es einfach nicht, meine Hand ruhig zu halten. Nach drei Versuchen und drei verwackelten Bildern, nimmt mir das Mädchen das Handy aus der Hand und lächelt mich leicht an. "Es tut mir Leid", flüstere ich und schaue zu Boden. "Kein Problem Ju. War schön dich mal getroffen zu haben." Mit diesen Worten verschwinden die Mädchen wieder und winken mir noch kurz zu, als sie die Brücke verlassen. Was war denn das? Keine Bemerkung über mein Aussehen oder Verhalten? Hat es sie denn gar nicht interessiert, dass ich aussehe wie ein Penner? Zögernd schaue ich auf den Rhein, der unter der Brücke durchfließt. Ich kann nicht riskieren, dass mich nochmal jemand unterbricht. Und vor allem kann ich nicht riskieren, dass Fans dabei zusehen müssen, wie ich mich in den Tod stürze. Ich werde es nicht hier tun. Aber ich werde es tun.

"Wenn du nicht weiterkommst, ändere den Weg, aber niemals das Ziel"

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 30, 2016 ⏰

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Broken (Ju x Cheng ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt