Kapitel 50

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P.O.V Cheng

Schockiert schnappe ich nach Luft. Mein Blick haftet auf dem Blatt Papier, dass ich in den Händen halte und auf das Ju seinen Abschiedsbrief geschrieben hat. Ich kann nicht glauben, was ich da gerade gelesen habe. Mir wird plötzlich ganz schlecht und ich habe das Gefühl, gleich umzukippen, also klammere ich mich mit einer Hand an der Tischkante fest, verzweifelt auf der Suche nach Halt. "Stephan.", flüstere ich tonlos. Sofort ist er bei mir und unser Streit rückt in den Hintergrund. "Was ist los?", fragt er mit einem besorgten Unterton und schielt auf das Papier. Wortlos halte ich es ihm hin und er schaut mich verwirrt an. "Ju.", kommt es nur von mir. Er nimmt mir den Brief aus der Hand und überfliegt ihn. Ich stehe einfach nur da und sehe ihn an, weil ich nicht im Stande bin, mich zu bewegen. Plötzlich weiten sich Stephan's Augen und er lässt den Brief fallen. "Cheng, warum stehst du da so rum?! Dein Freund versucht gerade sich umzubringen!" Ich starre ihn an. Er starrt entgeistert zurück. "Er ist nicht mehr mein Freund.", flüstere ich, wie benebelt. Ich realisiere gar nicht, was hier passiert, bis ich auf einmal einen stechenden Schmerz an meiner Wange spüre. Stephan hat mir eine gescheuert. "Alter, beweg jetzt deinen Arsch, man!" Das reicht, um mich in die Realität zurückzuholen. Was aber vielleicht auch nicht unbedingt gut ist, denn jetzt bekomme ich einen Panikanfall. "Oh Gott! ICH MUSS IHN FINDEN! FUCK!" Ich kann nicht mehr still stehen und renne wie ein Verrückter vor meinem Kumpel hin und her. Es ist, als hätte ich gerade das Adrenalin von ganz Köln in mir und ich bin nicht sicher, ob mein Körper das verkraftet. Im Moment ist mir das aber sowas von scheißegal. Ich muss Ju finden, bevor es zu spät ist! Plötzlich kommt mir ein grauenvoller Gedanke, der mich sofort zum Stehenbleiben bringt. "Was...Was ist, wenn er schon...?" Stephan weiß sofort, was ich sagen will und klatscht mir deshalb gleich nochmal eine. "Halt jetzt die Fresse, Cheng! Wir finden ihn!" Auch seine Stimme ist brüchig und seine Augen sind gefüllt mit Tränen. Nicht nur ich würde meinen Freund verlieren, sondern auch er. Und all die anderen, die mit Ju befreundet sind. Ich darf das nicht zulassen. Ich muss ihn finden. Und zwar lebendig.

Keine zwei Minuten später, stehen Steffi und ich auf unseren Boards und suchen nach Ju. Wir haben alle möglichen Leute angerufen und gefragt, ob sie wissen wo er ist, aber niemand konnte uns helfen. Dafür ist unser Suchtrupp jetzt vier mal so groß, weil Vince, Joon, Jimmy, Rob, Filipe und Vik ihn natürlich auch so schnell wie möglich finden wollen. Und so rennen jetzt acht Verrückte durch Köln und rufen nach Ju. Bleibt nur zu hoffen, dass wir noch rechtzeitig kommen...

P.O.V Ju

Gedankenverloren schaue ich aus dem Fenster. Bäume und Häuser fliegen an mir vorbei und meine Sicht verschwimmt leicht. "Nächster Halt: Aachen Hauptbahnhof", tönt es aus dem Lautsprecher und ich löse meinen Blick langsam vom Fenster. Ich weiß, dass ich diesen Tag höchstwahrscheinlich nicht überleben werde, aber ich kann nicht gehen, ohne mich von meiner Familie verabschiedet zu haben. Natürlich kann ich ihnen nicht sagen, was ich vorhabe aber ich will sie wenigstens noch einmal sehen und ihnen für alles danken, was sie für mich getan haben. Sobald der Zug anhält, stehe ich auf und steige aus. Es fällt mir zunächst schwer, mich zu orientieren, da so viele Menschen um mich herumstehen. Eigentlich müsste ich mich auskennen, schließlich bin ich hier groß geworden, aber ich war wohl einfach zu lange nicht mehr hier. Irgendwann finde ich glücklicherweise den Ausgang und mache mich auf den Weg zum Haus meiner Eltern. Es hängen unendlich viele Erinnerungen an diesem Ort, sowohl gute als auch schlechte und ich muss mich wirklich zusammenreisen, um nicht umzudrehen und mich direkt vor den nächsten Zug zu werfen. Ich will dem Treffen mit aller Kraft aus dem Weg gehen aber meine Familie würde es mir nie verzeihen, wenn ich einfach ohne ein Wort gehen würde. Sie werden mir wahrscheinlich auch so nicht verzeihen, aber das kann ich jetzt nicht ändern.
Da ich zu Fuß ungefähr 15 Minuten brauche, habe ich genug Zeit um nachzudenken. Darüber, wie ich mich am besten verhalte, sodass niemand Verdacht schöpft. Ich zerbreche mir den Kopf darüber und gehe das Aufeinandertreffen mit meinen Eltern und Shawn gedanklich hundert mal durch. Doch schließlich komme ich zu dem Schluss, dass es das beste ist, wenn ich einfach ganz normal bin. Soweit es eben möglich ist, kurz vor dem eigenen Tod noch "normal" zu sein.
Nach einiger Zeit, komme ich endlich an und drücke zögernd auf die Klingel, wofür ich jedoch drei Anläufe brauche, weil ich irgendwie immer noch einen Rückzieher machen will.  Es dauert keine halbe Minute, bis die Tür geöffnet wird und mein Vater mir gegenübersteht. Ungläubig schaut er mich an und ich lächle leicht. "Hey Papa.", sage ich zögernd und gehe einen Schritt auf ihn zu. Er hat jetzt wohl kapiert, dass ich wirklich hier bin und er nicht halluziniert und lacht mich freudig an. "Junge, bist du groß geworden! Wie lang haben wir uns nicht mehr gesehen? Komm her, lass dich drücken!" Mit diesen Worten schließt er mich in seine Arme. Ich genieße es, die Wärme, die Liebe, die von ihm ausgeht. Erinnert mich irgendwie an...Cheng. Ich schlucke diesen Gedanken so schnell wie möglich runter und unterdrücke die Tränen. Nein, jetzt nicht. Ich darf jetzt nicht an ihn denken. "Kleiner, ist alles gut bei dir?", fragt mein Papa, der sich mittlerweile wieder aus unserer Umarmung gelöst hat. Ich lächle. "Ja, alles gut. Ist Mama da?" Sofort hellt sich sein Gesicht auf und er zieht mich ins Haus. Es ist unglaublich, wie viel Liebe immer noch in ihrer Ehe steckt. Da könnte sich manch anderer eine Scheibe abschneiden! Als ich durch mein altes Zuhause laufe, kommen so unglaublich viele Erinnerungen hoch. Ich sehe mein altes Zimmer, dass sich seit meinem letzten Besuch hier kaum verändert hat. So wie alles eigentlich. Irgendwie ist alles noch genauso schön, wie damals. Alles ist bunt und fröhlich, vielleicht ein bisschen altmodisch, aber trotzdem schön. Als ich dann endlich das Wohnzimmer betrete, sehe ich sie. Die wundervollste Frau, die Gott jemals geschaffen hat. "Mama!", rufe ich, woraufhin sie überrascht aufblickt. Ich stürme auf sie zu, als wäre ich noch ein kleines Kind und schon liegen wir uns in den Armen. Es fühlt sich so gut an, bei ihr zu sein. Erst jetzt merke ich, wie sehr sie mir eigentlich gefehlt hat. "Ju-Ju, was machst du hier?", fragt sie überrascht und als ich sie ansehe, kann ich eine kleine Träne in ihrem Auge entdecken. "Ich hab euch vermisst.", sage ich einfach nur. Und es ist die Wahrheit.
Wenig später sitzen wir alle zusammen am Tisch. Shawn ist inzwischen nach Hause gekommen und konnte gar nicht glauben, dass sein Brüderchen zu Besuch ist. Warum habe ich nie realisiert, wie sehr mir meine Familie gefehlt hat? Ich hätte sie viel öfter besuchen sollen aber ich hatte nur meine Arbeit im Kopf. Traurig, dass uns jetzt nur noch so wenig Zeit bleibt.
Wir reden über dies und das und genießen einfach unsere Gemeinsamkeit, als ich irgendwann auf die Uhr schaue. 18:00 Uhr. Langsam sollte ich mal zurück nach Köln, sonst habe ich vielleicht nicht mehr genug Zeit, um mein Vorhaben durchzuziehen. Ob Cheng meinen Brief überhaupt schon gelesen hat? Bestimmt, er müsste ja schon längst wieder zuhause sein. Ein Blick auf mein Handy bestätigt meinen Verdacht. Ich habe genau 14 Nachrichten und 7 verpasste Anrufe von Cheng. Er hat den Brief also gelesen. "Ju-Ju, ist alles in Ordnung? Du wirkst so traurig." Als ich aufschaue, blicke ich in das besorgte Gesicht meiner Mutter. "Mir geht's gut.", sage ich mit einem gequälten Lächeln. "Ich muss nur langsam wieder zurück. Sonst machen sich Vince und Joon noch Sorgen." Traurig lächelt sie mich an und ich sehe, wie enttäuscht sie ist. Auch mein Vater und Shawn sind enttäuscht. Ich muss jetzt hier raus, sonst fange ich noch an zu heulen. Also stehe ich auf und verabschiede mich von meiner Familie. Es tut weh, zu wissen, dass ich sie nie wieder sehen werde, aber ich bin selbst schuld. Ich muss das jetzt durchziehen. "Grüß die beiden ganz lieb von uns!", sagt man Vater und bezieht sich damit auf Vince und Joon. "Ja und komm uns bald mal wieder besuchen, Bruderherz." Shawn klopft mir leicht auf die Schulter. "Mach ich.", erwiedere ich grinsend. Ich weiß, dass es eine Lüge ist. Als letztes verabschiede ich mich von meiner Mama. Sie drückt mich ganz fest an sich und ich will sie, wenn ich ehrlich bin, auch gar nicht mehr loslassen. "Danke für alles.", flüstere ich in ihr Ohr. Sie löst sich von mir und sieht mich etwas verwirrt an, lächelt dann aber und streicht mir sanft über die Wange. Dann gehe ich zur Haustür und meine Familie begleitet mich noch. "Ich hab euch lieb.", sage ich und sehe sie alle nochmal an. Ich schaue in drei lächelnde Gesichter und auch ich ringe mich noch zu einem Lächeln durch, bevor ich mich endgültig umdrehe und den Tränen freien Lauf lasse.

Broken (Ju x Cheng ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt