Tag 67 // Tag 62

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»Das letzte Mal hast du gesagt, du hast Angst vor den mitleidigen Blicken, die mit der Bekanntgabe deines Tumors und deines bevorstehenden Todes einhergehen würden. War das bei Kyle so?«

»Ob er mich so angesehen hat? Ja schon. Er war geschockt und hatte es erst nicht glauben können. Aber dann hat er mir etwas gesagt.«

»Und was?«

»Er meinte, die Wahl läge bei mir. Ich habe die Wahl, allein und einsam zu sterben oder in meinen letzten Tagen echte Freundschaft erleben zu dürfen. Aber ich finde es auch nicht richtig, mich mit jemanden anzufreunden, wenn ich-« Ich konnte nicht weitersprechen und wandte mich ab. Gestresst wischte ich mir über das Gesicht. Meine Therapeutin legte ihr Klemmbrett weg und sah mich genau an.

»Kyle scheint ein kluger Junge zu sein. Und ich muss ihm Recht geben«, sagte sie. Ich sah sie fragend an. »Jo, du bist ein gutes Mädchen. Aber es fällt dir schwer, dich zu öffnen und anderen zu vertrauen. Und du denkst viel zu sehr an andere. An das, was sie sagen könnten oder was sie über dich denken würden.

Und was das Thema mit der Freundschaft angeht: Du willst sie schützen, das spricht für dich. Aber lass dir eines gesagt sein.« Meine Therapeutin lehnte sich weiter vor zu mir. »Ab und an sollte man auch an sich selbst denken. Du solltest es ihnen sagen - wer auch immer das sein mag - und dann solltest du ihnen die Gelegenheit geben, selbst zu entscheiden, ob sie damit umgehen können und wollen. Das ist ihr Recht und du darfst ihnen das nicht nehmen.«

»Und wenn sie sich dann abwenden?«, fragte ich leise. Denn das war meine geheimste Angst. Abgewiesen zu werden, aufgrund meines baldigen Todes. Dr. Della Bryson lächelte.

»Dann hättest du mit ihnen ohnehin keine echte Freundschaft erlebt.«

Zuhause ging ich zum Sofa und kroch unter die dünne Decke, die noch von gestern darauf lag. Dann rollte ich mich zusammen, krallte meine kalten Händen in den Stoff und starrte vor mich hin. Ich musste es Nathalie sagen. Aber wie? Verwirrt schloss ich die Augen. Ich fürchtete mich davor.

Ich musste eingenickt sein, denn als ich aufwachte, hantierte meine Mum gerade in der Küche herum. Essensduft wehte in das Wohnzimmer. Müde stand ich auf und trottete zu meiner Mutter.

»Hi«, sagte ich und pflanzte mich auf den nächstbesten Küchenstuhl.

»Oh hi Jo«, trällerte meine Mum. »Ich wollte dich nicht wecken. Wie war deine Therapie?«

»Gut«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Wir haben darüber gesprochen, dass es besser wäre, wenn mehr von dem Tumor wüssten.«

»Dem stimme ich zu«, sagte Mum und briet irgendwas in der Pfanne an. »Vor allem die Lehrer. Was ist, wenn du eine der Attacken im Unterricht bekommst? Die wissen doch gar nicht, was los ist.«

»Der Direktor weiß Bescheid«, erinnerte ich sie seufzend.

»Ja, aber der ist doch auch nicht immer da. Wir sollten-«.

»Nein«, unterbrach ich sie sofort. »Die würden mich gesondert behandeln und ich will keine Sonderbehandlung.«

»Jo-«

»Du hast das nicht zu entscheiden«, fuhr ich sie an. Sie drehte sich zu mir herum. Und hielt mir eine Standpauke.

»Na hör mal, Fräulein. Ich bin immer noch deine Mutter. Du magst zwar achtzehn sein, aber Direktor White kann die anderen Lehrer informieren, wenn es zu deinem Besten ist, auch ohne deine Zustimmung. So haben wir es ausgemacht. Deine Attacken kommen immer häufiger, das macht mir Angst, Jo, verstehst du das nicht? Ich habe Angst, dass ich irgendwann einen Anruf bekomme, weil du in der Schule umgekippt bist und dir keiner helfen konnte, weil sie nicht wussten, was los ist. Du bist sterbenskrank, Jo. Das ist kein Geheimnis, sondern eine Tatsache!« Verärgert wandte sie sich wieder um und stocherte in ihrem Essen herum.

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt