Tag 70 // Tag 69

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»Und diese Attacken?«

»Überkommen mich völlig unkontrolliert. So schlimm wie heute war es noch nie. Gelegentlich wird mir schwindelig, ich habe ein Taubheitsgefühl in meinen Armen. Generell kann ich nur noch sehr wenig essen. Kartoffel klappt da am besten, aber sonst spucke ich alles binnen zehn Minuten wieder aus.« Ich stoppte und fing an zu lachen. »Ich hab dir ja gesagt, dass ich auf deiner Party kotzen werde.« Kyle lächelte matt.

»Und es gibt wirklich keine Heilung?«, probierte er es weiter. Ich schüttelte bitter lächelnd den Kopf.

»Ich habe viel mit den Ärzten gesprochen, aber diese Art von Krebs ist unheilbar. Keiner weiß, warum ich ihn erst jetzt habe oder ob er einfach nur unbemerkt geblieben ist. Es hat letztes Frühjahr angefangen. Ich hatte jeden Tag Migräne, konnte nicht aufstehen, habe Dinge gesehen, die nicht da waren. Mir war schwindelig, ich bin oft in Ohnmacht gefallen und hatte epileptische Anfälle. Da sind wir zum Arzt gegangen und dann hat sich herausgestellt, dass ich krank bin.

Die Ärzte haben versucht, den Tumor herauszuschneiden, aber die Operation ist zu riskant.« Gedankenverloren fuhr ich mir über die Narbe an meinem Kopf. »Dann habe ich eine Chemo und eine Bestrahlung bekommen, aber meine letzten Aufnahmen zeigen, dass der Tumor wieder gewachsen ist. Es hilft alles nichts.«

»Und was jetzt? Wartest du, bis es losgeht?«

»Nein«, erwiderte ich und jetzt sah ich Kyle an. »Bis dahin lebe ich.«

Wir schwiegen wieder und hingen unseren Gedanken nach. Bis Kyle wieder eine Frage einfiel, die er stellen konnte.

»Wieso gehst du noch zur Schule?«, wollte er wissen. Ich drehte meinen Kopf wieder so, dass ich in den Himmel starrte.

»Ursprünglich wollte meine Mum es, damit ich nicht in meinem Zimmer vor mich dahin vegetiere. Jetzt gehe ich, um Nathalie zu sehen und um im Kreativen Schreiben zu sitzen. Ich will ein Schreiber werden.«

»Weiß Nathalie von-« Er stockte. Ich sah wieder zu ihm.

»Meiner misslichen Lage?«, fragte ich provokant. »Nein, das tut sie nicht. Ich wollte mir das Privileg herausnehmen, mich einmal normal zu fühlen. Eine normale Freundin zu haben. Und nicht immer beherrscht zu sein von der ständigen Präsenz des Todes.«

»Aber es ist Nathalie nicht fair gegenüber, dass du ihr etwas vorlügst. Hast du Angst davor, dass sie sich abwendet, nachdem du es ihr gesagt hast?«, argumentierte Kyle. Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist es nicht«, gestand ich.

»Was ist es dann?«, fragte er herausfordernd. Ich sah ihn an und setzte mich schließlich auf. Dann holte ich tief Luft und begann zu reden: »Ich bin zwiegespalten. Auf der einen Seite will ich niemanden an mich heranlassen, ich will den Leuten nicht diese Last und diese Trauer aufbürden; ich will nicht diese Blicke voller Mitleid sehen.

Aber auf der anderen Seite hätte ich gern jemanden, der versteht, wie es mir geht und den ich anrufen kann, wenn ich starr vor Angst nachts um zwei Uhr aufwache, weil alles wieder über mir hereinbricht.«

»Ich denke, dass die zweite Variante besser ist«, meinte Kyle.

»Du weißt nicht, was besser für mich ist«, fauchte ich automatisch. Kyle verdrehte die Augen.

»Ich weiß, was gesünder für dich ist«, sagte er und sah mich an. »Du hast die Wahl. Entweder du stößt alle, die dich lieben, von dir weg, um ihnen nicht zu schaden. Damit stirbst du zwar als Märtyrerin, aber allein und einsam und du wirst dich fragen, ob der andere Weg nicht vielleicht besser gewesen wäre.

Oder du öffnest dich der kleinen Anzahl von Menschen, die verrückt genug sind, ihre Zeit mit dir zu verbringen und hast die Chance in deinen letzten Tagen wahrhaft echte Freundschaft genießen zu dürfen. Denn das ist das, was du mit Nathalie Parker hast. Du hast die Wahl, Jo.«

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt