Als wir wieder am Seniorenheim ankamen, ging sie als Erstes zur Chefin. Schnell erzählte sie ihr, dass ich heute wieder mit von der Partie wäre und dann kam sie schon lächelnd mit den Schlüsseln in der Hand angelaufen.

»Dann lass uns die Ladys mal abholen!«, trällerte Nathalie. Grinsend folgte ich ihr. Ihr Beine steckten heute wieder in ihrer schwarzweiß längs gestreiften Jeans. Diese Hose und die roten, ausgelatschten Schuhe dazu waren für mich das Sinnbild von Nathalie. Das und ihre schwarzen, kinnlangen Haare.

»Hallihallo!«, rief Nathalie, als sie einen kleinen Aufenthaltsraum betrat. Darin saßen vier ältere Damen. »Bereit für den Friseur?«

»Ich bin schon seit 1986 bereit dafür«, blaffte eine der Damen. Sie trug ein gelbes Oberteil, darüber eine weiße Bluse. Ihre beige Hose passte gut dazu und zeigte mir, dass diese Frau auf ihr Äußeres achtete.

»1986 war ich aber leider noch nicht geboren, um Sie zu fahren, Mrs Lancaster«, feixte Nathalie und wackelte mit den Schlüsseln. »Aber ich würde sagen, das Warten hat sich gelohnt, oder nicht?« Mrs Lancaster lächelte verschmitzt. Dann erhob sie sich.

Währenddessen sah ich mir die anderen Omis an. Eine strickte und beachtete uns nicht. Eine andere sah immer auf ein altes Foto und murmelte vor sich hin und die letzte sah Mrs Lancaster mit zusammen gekniffenen Augen an.

»Heute sitze ich vorn«, sagte sie. Mrs Lancaster fuhr herum, zweifelsohne um zu protestieren. Doch bevor es hier in Streit ausarten konnte, ging Nathalie dazwischen.

»Heute sitzt meine Freundin Jo vorn«, sagte sie und zeigte auf mich. Die Damen sahen mich an. Mrs Lancaster musterte meine Kleidung, während ihre Rivalin aussah, als wollte sie mich am liebsten umbringen.

»Hi«, sagte ich also und hob obligatorisch die Hand zum Gruß. Mrs Lancasters Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Als Erstes, Mädchen, hast du dich vorzustellen und dann hast du uns ordentlich zu begrüßen«, zischte sie barsch. Sie kam auf mich zu und drückte auf meinen Rücken. »Steh gerade, Mädchen. Kinn nach oben. Frauen haben hart dafür gekämpft, aufrecht stehen zu dürfen.« Sie drückte mein Kinn nach oben und sah mir in die Augen. Schließlich lächelte sie leicht. »Hübsches Gesicht.«

Kurz darauf saßen wir in dem Van des Seniorenheims. Ich neben Nathalie und die Golden Girls auf den Sitzen dahinter. Ich hatte eigentlich immer geglaubt, Nat sei eine gute Fahrerin. Da war ich mit ihr auch noch nie in einem Transporter gefahren. Als ich sie kritisch ansah, deutete sie hektisch auf die Pedale.

»Was denn? Das ist ein Benziner, ich fahre sonst nur Diesel«, rief sie nach dem dritten Abwürgen des Motors.

»Ausrede! Du kannst einfach nicht Auto fahren«, brüllte Mrs Lancaster von hinten. Dann wandte sie sich an ihre Erzrivalin. »Wo hat die denn ihren Führerschein gemacht?« Beide Frauen kicherten, als wären sie die besten Freundinnen.

»Vier sympathische Omis, ja?«, sagte ich zu Nathalie. Sie grinste und gab Gas. Wenn wir schwungvoll um die Kurve bretterten, warfen Mrs Lancaster und ihre beste Feindin die Hände in die Luft und kreischten wie in der Achterbahn. Ich glaubte, eine der anderen zwei stillen Damen beten zu hören.

Schließlich saßen wir im Friseursalon und den Golden Girls wurde die Matte frisiert. Seufzend lehnte ich mich neben Nathalie zurück und trank ein Schluck von meinem Wasser.

»Sie sind alle aus den unterschiedlichsten Gründen hier. Mrs Lancasters Mann ist gestorben und ihre Kinder und Enkel wohnen zu weit weg. Also hat sie sich für das Altenheim entschieden. Zufällig das, in dem jetzt auch Rosie wohnt«, sagte Nathalie und deutete mit ihrem Milchshake auf die Rivalin von Mrs Lancaster. »Eigentlich hassen sich die beiden, aber ich glaube, tief drinnen sind sie froh, einander zu haben. Sie sind auch ganz niedlich manchmal, aber ihre nervige Art überwiegt leider.« Nathalie verdrehte die Augen und lächelte schief.

»Wenn es dich stört, dann hättest du deine Sozialstunden woanders ableisten sollen!«, rief Rosie und Mrs Lancaster schob noch hinterher: »Oder nicht auf die Schuhe vom Officer kotzen sollen!«

Als die Damen fertig waren, fuhren wir sie wieder zurück. Nathalie hatte Hunger, also hielten wir noch an einem Diner an und bestellten uns Pommes zum Mitnehmen. Draußen fuhren wir noch ein Stück, bis wir eine abgelegene Stelle gefunden hatten. Nathalie und ich saßen mit unseren Pommes auf der Mauer in der Abenddämmerung und starrten auf die leeren Straßen vor uns.

»Rosie hat etwas davon erzählt, dass du dir raussuchen konntest, wo du deine Sozialstunden ableistest. Wieso hast du dich für das Altenheim entschieden?«, fragte ich leise. Ich sah Nathalie von der Seite an. Die schwarzen Haare umspielten ihr Kinn. Ich konnte gerade noch ihren Mund erkennen, den sie zu einer harten Linie zusammenpresste. »Ist schon in Ordnung. Du musst nicht antworten.« Nathalie schüttelte den Kopf und sah dann auf in den Himmel.

»Ich hab mich dafür entschieden, weil ich was gut machen wollte«, begann sie. Sie sah mich immer noch nicht an, aber das verübelte ich ihr nicht. Manche Menschen brauchten diese Distanz.

»Meine Familie ist etwas verkorkst. Mein Dad hat uns verlassen, als ich fünf war, weil er keinen Bock mehr hatte. Mum hat von da an allein weiter gekämpft. Meine Großeltern wohnten nebenan, also halfen wir einander, so gut es ging.

Dann bekam meine Oma Alzheimer. Mein Großvater gab sich mehr und mehr dem Alkohol hin, er konnte die Krankheit seiner Frau wohl nicht verkraften. Er nahm seine Tabletten nicht mehr und schließlich verlor er seinen Lebenswillen. Er starb im Krankenhaus an Herzversagen.

Ich werde nie den Moment vergessen, als meine Oma früh in unserer Küche stand. In diesem einen Moment war ihr Verstand völlig klar. Sie konnte ganze, lange Sätze von sich geben. Sie hatte den Weg zu uns gefunden, ihren Schlüssel dabei, sie hatte nichts vergessen. Es war, als wäre sie gar nicht krank. Meine Mum nahm sie in den Arm und sie begann zu weinen. Damals war sie wie gesagt schon krank, aber ich war noch jung. Vielleicht zwölf oder dreizehn.

Dann wurde es schlimmer. Sie war die ganze Zeit allein zu Haus, gab ab und zu nur vereinzelte Wörter von sich und wer weiß, was sie den ganzen Tag in ihrer Wohnung tat. Mum gingen erst abends zu ihr, nach der Arbeit, um sie zu pflegen. Zu der Zeit warteten wir schon auf einen Altenheimplatz.

Auch ich pflegte sie manchmal. Ich hab es gern gemacht, aber ich war immer irgendwie wieder froh, wenn ich aus der Wohnung raus war. Ich war so wenig für sie da. Sie war den ganzen Tag allein und selbst als ich aus der Schule nach Hause kam, ging ich erst abends zu ihr. Sie war doch meine Oma und ich war nicht für sie da.« Nathalie stellte die Pommes zur Seite und schlug sich die Hände vor das Gesicht. Sie begann zu weinen und zu schluchzen.

»Nathalie«, sagte ich sanft, »sie ist krank geworden, vielleicht hat sie dich durch die Krankheit gar nicht mehr erkannt. Und du hattest doch selbst ein Leben, Freunde, Hobbys.« Sie schüttelte den Kopf und sah mich an.

»Manchmal hatte sie Geld herum liegen. Und manchmal habe ich es eingesteckt, wenn ich mit meiner Mutter im Streit lag und sie mir das Taschengeld strich. Meine Großmutter war so ein herzensguter Mensch und wie habe ich es ihr gedankt? Ich habe ihre Krankheit ausgenutzt, um sie zu beklauen. Ich bin furchtbar, Jo. Und ich bereue es jeden Tag mehr. Ich wünschte, ich wäre mehr für sie da gewesen. Ich wünschte, die beiden würden noch leben und könnten sehen, wie ich meinen Abschluss mache, ich wünschte, sie könnten sehen, wie ich mich nachts aus dem Fenster schleiche und mich dann decken, wenn Mum mich deswegen ausfragt. Ich wünschte, ich hätte mehr für sie gelebt.« Sie ließ den Kopf wieder hängen und ich schlang die Arme um sie.

»Damals warst du jung, Nat. Manchmal versteht man da gewisse Dinge noch nicht so gut. Das ist unser Handicap. Dass wir immer erst später wissen, was wir hätten tun sollen. Ich bin sicher, sie ist nicht böse auf dich. Und dass du jetzt im Altenheim arbeitest, würde deine Großeltern stolz machen, da bin ich sicher.«

»In meiner Familie muss ja alles schieflaufen«, weinte Nathalie.

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich war nie gut in solchen Dingen. Ich bin schlecht im Trösten. Also tat ich das einzige, was man tun konnte, wenn keine Wörter dieser Welt den Schmerz linderten.

Ich hielt sie einfach weiter im Arm.


The Bucket ListWhere stories live. Discover now