»Du weißt nicht das Geringste über mich«, zischte er. Ich lächelte, genauso wie man lächelte, wenn man einen unentdeckten Trumpf im Ärmel hatte.

»Ich weiß mehr, als du denkst«, erwiderte ich also nur. Kyle schnaubte. Mrs Dickinson unterbrach unseren Schlagabtausch.

»Heute will ich euch näherbringen, wie wichtig das Schreiben ist«, begann sie. Mit funkelnden Augen blickte sich durch die Klasse. »Wer kann mir sagen, wieso wir schreiben?«

Niemand meldete sich. Jeder blickte verlegen zur Seite und hoffte, ein anderer würde unserer Lehrerin zum Opfer fallen. Mrs Dickinsons Augen hefteten sich auf einen Jungen in der zweiten Reihe.

»Mr James«, rief Mrs Dickinson. Der Angesprochene schloss kurz entnervt die Augen.

»Wir schreiben, um uns Gehör zu verschaffen?«, versuchte er es. Mrs Dickinson nickte.

»Warum noch?«, fragte sie und sah in die Runde.

»Um etwas zu verarbeiten?«, schlug ein Mädchen aus der vorderen Reihe vor. Mrs Dickinson nickte wieder.

»Wir schreiben auch, um etwas zu verändern«, warf Kyle neben mir ein. Mrs D fixierte ihn.

»Ganz genau«, sagte sie leise. »Jeder liest die gleichen Worte, aber für jeden haben sie eine andere Bedeutung. Und deshalb berühren sie jeden Menschen auf eine andere Art und Weise. Das Schreiben ist also in gewisser Weise eine Hilfe für die anderen«, Mrs Dickinson sah durch die Reihen, »aber es ist auch eine Hilfe für uns selbst.«

»Wie meinen Sie das?«, hörte ich mich fragen, bevor ich mich stoppen konnte. Alle Augen lagen auf mir. Jeder Idiot glotzte mich an. Auch die Augen meiner Lehrerin schnellten zu mir und ich erahnte ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht.

»Es kann einen erleichtern«, erklärte sie. »Die meisten beginnen damit, weil das geschriebene Wort eine gewisse Anonymität bietet. Jeder Mensch hat etwas zu erzählen. Aber nicht alle tun dies von Angesicht zu Angesicht.«

Schließlich wandte sie sich weiteren Fragen zu und ließ mich grübelnd in meiner Ecke zurück. Ich wollte schreiben. Aber worüber?

Nach der Stunde ging ich zu ihr. Sie saß auf ihrem Stuhl hinter dem Tisch und blickte mir erwartungsvoll entgegen.

»Jo, wie kann ich dir helfen?«, fragte sie lieb.

»Ich will schreiben, Mrs Dickinson. Vielleicht bin ich kein Schreiber, aber ich will es versuchen. Ich will schreiben. Ich will etwas erzählen. Aber es fällt mir schwer, ein Grundgerüst zu finden. Ich weiß nicht, worüber ich schreiben soll«, klagte ich und biss mir auf die Lippe.

»Man sagt, die erste Geschichte ist die Geschichte, die man selbst lesen will.« Mrs Dickinson nahm die Brille ab und sah mich an. »Du hast nur dieses eine Leben, Jo. Aber auf dem Papier hast du tausende. Du musst nur damit beginnen, sie zu erschaffen.«

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Tag 74

Den Mittwoch stand ich ganz gut durch. Ich schaffte es, sogar etwas zu Mittag zu essen, da ich am Nachmittag mit den Golden Girls, wie Nathalie sie nannte, verabredet war.

Nach der Schule traf ich sie auf dem Parkplatz. Sie fuhr mir hinterher und ich stellte meine Schrottkarre auf meinen Parkplatz. Ich ersparte mir die Mühe, noch einmal ins Haus zu gehen, und glitt gleich neben Nathalie auf den Sitz. Sofort gab sie Gas. Sie stellte keine Fragen. Ihr war es egal, dass ich solche Ausflüge erst danach mit meiner Mutter besprach und es kümmerte sie auch nicht, dass ich ihr nie das Warum erzählte. Und dafür mochte ich sie sehr.

The Bucket ListWhere stories live. Discover now