Andre hebt mein Kinn hoch und blickt mir tief in die Augen, dann lächelt er mich kurz an und küsst mich auf die Stirn. Diese Zärtlichkeit beruhigt mich. Er berührt mich zaghaft.

Er nimmt meine Hand und bringt mich zu seiner Familie, die schon am Esstisch sitzt. Andre zieht mich neben seinen Stuhl. Zusätzlich ist links von mir seine Schwester Anna, während seine anderen Schwestern und seine Mutter vor mir sitzen. Nur ein Blick ist feindselig auf mich gerichtet - es ist Andres Mutter. Sie hasst mich, denke ich.

,,Sohn, willst du uns diese Frau nicht vorstellen?", fragt seine Mutter. Ich fühle mich schrecklich. Wie kann sie so zu mir sein? Ich habe ihr nichts Böses getan. Sie hasst mich schon zu Beginn in den ersten Minuten. Ich atme aus und spüre diese fiesen Blicke von ihr. Es kommt mir vor, als ob sie von mir eine Antwort erwartet, aber warum hat sie mich nicht angesprochen? Hmm... ich glaube, ich könnte nie ein Wort bei dieser Frau ausspucken. Ich habe Angst vor ihr. Die Anspannung im Raum kann man beinah greifen.

,,Diese Frau ist meine Freundin Elvira", antwortet Andre mit einem scharfen Ton. Anscheinend haben die anderen diese Anspannung gemerkt und fangen alle gleichzeitig an zu sprechen.

,,Oh, das ist ja toll", sagt Anna, dann redet schon die Nächste. ,,Endlich hat er eine Freundin." Und zuletzt spricht Alise. ,,Weißt du, er hatte uns nie eine Freundin vorgestellt. Ich dachte, er bleibt für immer ein Junggeselle. Ich freue mich so", sagt sie und lächelt mich und dann ihren Bruder nett an. Seine Schwestern sind wirklich hinreißend. Nicht wie seine Mutter, die so gemein ist.

,,Also, ich habe heute gekocht. Ich hoffe, es schmeckt euch. Leider ist das Essen etwas kalt, da ihr uns warten gelassen habt, aber ich verzeihe euch", sagt er und spielt auf die Aussage seiner Mutter vorhin an. Oh Gott, Andre hat Recht gehabt. Die Beziehung zu seiner Mutter ist wirklich eigenartig.

Wir beginnen zu essen. Ihre Blicke hängen an mir, verbrennen mich. Es ist mir so unangenehm zu essen, wenn mich jemand beobachtet. Am liebsten wäre ich verschwunden, in Luft aufgelöst, aber leider klappt es nicht und ich habe nicht die Fähigkeiten dazu. Schade, wäre bestimmt ganz cool.
Ich werde von meinen Gedanken abgelenkt, als mich jemand anspricht.

,,Wie lange bist du überhaupt mit unserem kleinen Brüderchen zusammen?", fragt Amira und grinst breit. Meine Wangen erröten und ich habe den Drang, sofort wegzuschauen. Es ist mir peinlich, aber gleichzeitig weiß ich nicht, was ich antworten soll. Andre hat mich zwar als seine Freundin vorgestellt,  aber ich will seine Familie nicht gerne belügen. Zum Glück beantwortet Andre die Frage und sagt, dass wir seit einigen Wochen ein Paar sind und es ernst miteinander meinen. Ich bin erleichtert, dass er geantwortet hat. Jedoch werde ich nicht von den weiteren Fragen seiner Schwestern verschont. Das wird die Hölle.

,,Woher kennt ihr euch? Durch einen Clubbesuch? Durch Freunde? Ich habe Andre mehrmals versucht, mit einer meiner Freundinnen zu verkuppeln, aber es war so schwer, ihn zu einem Treffen zu zwingen. Er fand keine der Kandidatinnen hübsch. Naja, aber ich bin glücklich, dass er dich hat. Du bist so passend", schwärmt Anna und drückt meine Hand, die auf dem Tisch liegt. Ich zucke kurz zusammen, aber dann lasse ich es zu. Sie ist wirklich nett.

,,Nein. Kein Clubbesuch oder so ähnlich. Sagen wir es mal so... Er hat mich auf der offene Straße quasi überfallen und sich mir in den Weg gestellt und dadurch mein Leben verändert", erwidere ich und blicke auf meine Hände, bevor ich dann schüchtern zu Andre sehe, der mich komisch mustert.  Ok. Ich habe mehr gesagt, als ich sagen sollte. Andre wird bestimmt wütend auf mich sein, oder? Ich hätte es nicht aus meinem dummen Mund sagen sollen. Dumm. Dumm. Dumm.

,,Oh, wirklich? Liebe auf den ersten Blick?", fragt sie erneut und Andre ergreift diesmal das Wort. ,,Genau. Ich mochte sie von Anfang an. Sie hat etwas Besonderes, das mir gefällt." Ich werde wieder rot und trinke etwas Orangensaft aus meinem Glas. Das wird ja eine Schlacht...

,,Denkt ihr an Heirat?", platzt es nun aus Alise heraus, die ich eigentlich als sehr zurückhaltend wahrgenommen habe. Ich verschlucke mich an meinem Orangensaft und konzentriere mich wieder auf ihre Frage, aber ich bin überglücklich, als Andre wieder das Wort ergreift. Er nimmt meine Hand in seine und blickt in jedes Gesicht seiner Familie. ,,Ich kann mir eine Ehe mit ihr gut vorstellen. Auch Kinder wären sehr gut." Ich blicke ihn an und nehme diese Informationen auf. Meint er das alles ernst? Kann er sich wirklich mit mir eine Ehe samt Kindern vorstellen? Ich habe schon immer davon geträumt, aber ich habe ständig diese Wünsche verworfen, da ich nie den Richtigen gefunden habe. Kann es sein, dass genau Andre vielleicht der Eine ist? Meine wahre Liebe?

,,Und was ist mit dir?", fragt seine Mutter bissig und wirft mir einen kalten Blick zu. Ich werde nervös,  mein Herz schlägt schneller und fast kommt mir das Gefühl hoch, mich erbrechen zu müssen, aber ich schaffe es, mich zu beherrschen. ,,Ich denke schon, dass es möglich wäre." Aus meinem Augenwinkel sehe ich Andre leicht lächeln, was bei mir ein Glücksgefühl auslöst. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Vorhin ist Andre so hart gewesen und hat mir gedroht, und jetzt ist alles wieder gut.

Der Abend verläuft sehr nett und auch eigentlich ganz lustig. Seine Schwestern haben ständig irgendetwas gefragt und haben alte Kindheitsgeschichten erzählt. Sie haben mir sogar Fotos von ihren  entzückenden Kindern gezeigt, die leider nicht mitkommen konnten und zuhause bleiben mussten. Oft musste ich mir die bissigen Kommentare von seiner Mutter anhören oder ihre misstrauischen Blicke spüren, aber ich habe versucht, diese auszublenden. Nun ist die Nacht angebrochen und Andre und ich bringen das Geschirr in die Küche. Danach schickt Andre seine Verwandten in die Gästezimmer, während ich den Weg zum Schlafzimmer suche. Unser Tag ist gelaufen. Nun bricht die Nacht an. Allein mit Andre.

UnheilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt