Andre(X)

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Seit zwei Wochen verläuft es immer gleich. Ich bereite ihr Essen vor, bringe sie zum Badezimmer und dann wieder zu ihrem Zimmer, wo sie mehrere Stunden alleine sitzt und nichts sagt. Sie redet nicht mehr, sondern blickt still auf den kalten Boden. Meine Anwesenheit ignoriert sie permanent und erwidert keine Fragen, die ich ihr stelle. Sie scheint eingeschüchtert vor mir zu sein, obwohl ich nicht weiß, warum. Jedes Mal, wenn ich sie darauf ansprechen möchte, reagiert sie nicht und lässt mich eiskalt stehen. Das ernüchtert mich.

Die meiste Zeit bin ich im Erdgeschoss in meinem Büro und erledige meine Arbeit. Meistens lese ich mir Dokumente und E-Mails durch, die ich verschickt bekommen habe, oder führe Videochats durch, um meinem Job gerecht zu werden. Zum Glück komme ich die meiste Zeit mit dieser Arbeitseinstellung durch, jedoch muss ich ab und an wirklich raus und zum Unternehmen fahren, obwohl ich ein schlechtes Gefühl dabei habe, da ich Elvira alleine im Haus lassen muss. Was, wenn ihr etwas geschieht? Wenigstens beruhigt mich der Gedanke, dass ich nur für ein paar Stunden weg bin. Wenn ich aber auf Geschäftsreise wäre, würde es zu einem Problem werden, da ich Elvira nicht für einige Tage alleine lassen kann. Das ist unakzeptabel.

Ich vermisse das Gefühl, wieder mit ihr zu reden. Langsam bereue ich meinen Ausbruch und den Kuss. Dadurch ist unsere Beziehung wirklich abgestürzt, schon wieder... Wir reden nicht, sie blickt mich nicht mehr an und das Schlimmste ist, dass ich ihr Lächeln nicht mehr sehen kann. Sie ist so verschlossen; dennoch nehme ich die Herausforderung an, sie zu öffnen und sie dazu zu bringen, sich in mich zu verlieben. Sie mag mich doch insgeheim, nur will sie es nicht zugeben. Das weiß ich längst. Ich fühle es doch eindeutig.

Deshalb laufe ich wieder nach unten, um kurze Zeit später in ihr Zimmer einzutreten. Ich gehe langsam zu ihr und setzte mich neben sie auf die Matratze. Noch immer ist sie in derselben Position, in der ich sie vor einer Stunde gesehen habe. Was ist nur los mit ihr? Sie soll sprechen. Ich streiche wegen meiner wachsenden Verzweiflung mehrmals über meine Haare. Ich muss mit ihr reden und es endlich klären, auch wenn ich dabei einen Monolog führen muss.

,,Elvira, wie geht es dir?", frage ich freundlich, aber kassiere eine Abfuhr von ihr. Autsch... Ich schließe für ein paar Sekunden meine Augen. Noch einmal. Ich muss es noch einmal versuchen. ,,Was ist nur los mit dir? Beichte mir deine Gefühle und Gedanken. Ich werde einfach nicht schlau aus dir... Ignorierst du mich, weil ich deinen Versuch zum Abhauen verhindert habe oder wegen des Kusses?", frage ich sie und blicke sie eindringlich an. Sie zuckt beim letzteren Teil zusammen. Ich atme erleichtert aus. Es ist also der Kuss, der sie die ganze Zeit beschäftigt. Interessant.

Elvira ist wirklich hart zu knacken, aber ihre Körpersprache und ihre Augen verraten sie. Egal, was sie tut, ihr Körper kann nicht lügen. Sie kann so viel Mist plappern, aber der Körper könnte nie Lügen erzählen.

,,Hat dir der Kuss nicht gefallen?", frage ich und betone das Wort ,Kuss', doch ich kriege keine Antwort aus ihr heraus. Sie guckt auf ihre Hände, die sie nun zu Fäusten ballt. Ich verdrehe meine Augen. So stur. ,,War der Kuss wirklich so schrecklich, dass du jetzt ein Trauma davon hast? Ich glaube nicht, da du alles erwidert hast und ebenso deine Lippen und deine Zunge benutzt hast. Hat es dir keinen Spaß gemacht? Ich glaube schon, da du mich gar nicht mehr loslassen wolltest. Habe ich dir etwa wehgetan? Wenn ja, dann tut es mir sehr Leid. Ich hätte mich nicht so... aggressiv verhalten sollen. Ich hätte dich womöglich auch nicht küssen sollen, aber für mich schien es die beste Möglichkeit zu sein, um meinen Frust loszuwerden. Du bist auch nicht wirklich..."

,,Stopp, halt deinen Mund! Bitte rede nicht mehr davon", schreit sie und hält ihre Hand vor meinen Mund, damit ich nicht mehr reden kann. Ich bin so erleichtert, dass sie mit mir redet. Fast hätte ich voller Glück platzen können. Endlich...

,,Dann sag etwas. Hat dir der Kuss-"

,,Gefallen? Ja, das hat er. Ich mochte den Kuss, trotzdem ändert es nichts an unserem Verhältnis.", beendet sie meinen Satz und ich muss erst einmal nach Luft schnappen. Ich habe schon immer davon geträumt, dass mir meine Frau den Satz zu Ende spricht, aber dass es so ein Satz ist, wollte ich nicht. Vielleicht so etwas wie dieser Satz: ,Gefallen? Ja, der Kuss war fantastisch. Ich liebe dich.' Aber natürlich ist dies nicht die Realität, sondern nur bei meinen Träumen möglich. Schade.

,,Wie bitte...Es ändert sich nichts? Nein, so nicht. Komm mir nicht mit dieser Nummer. Du wolltest den Kuss genauso wie ich. Ich habe es doch gespürt, wie..."

,,Das... das ist etwas ganz anderes. Ich habe... geschauspielert. Ich habe nichts gefühlt, ok?", sagt sie zögernd, aber ich kann an ihrem Blick, ihrem Ton und an ihrem Körper ablesen, dass sie nur lügt, um mich zu verwirren. Ich schüttele einfach nur ungläubig den Kopf. Ich hätte jetzt lachen können... wirklich.

,,Ich habe den Kuss genossen..." Ich stoppe. Sie beobachtet mich. Ich lächele sie an. Ich habe keine Lust auf einen Streit mit ihr und sie will es doch auch nicht. ,,Lassen wir es jetzt einfach sein. Außerdem bist du eine schlechte Lügnerin. Du knabberst an deiner Lippe, wenn du lügst und streichst ständig an deinen Haaren herum, ebenso blickst du oft auf deine Hände. Also lass es. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du mich belügst." Ich atme laut aus und lecke mir über die Lippen. ,,Ich habe dir ja gesagt, dass ich meine Hände schmutzig machen würde, um das zu bekommen, was ich will. Habe ich das nicht gesagt?", frage ich und zwinkere ihr lächelnd zu. Sie guckt weg und nickt. Hoffentlich versteht sie, dass sie nicht vor mir weglaufen kann.

Ich strecke meinen Arm in ihre Richtung und greife nach ihrer Hand. Zuerst denke ich, dass sie zurückziehen wird, aber als sie nichts tut, kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie lehnt mich nicht ab. Ich bin überglücklich.

UnheilDonde viven las historias. Descúbrelo ahora