Elvira(X)

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Irgendwann mitten in der Nacht wache ich auf. Ich sehe Dunkelheit, kein Licht. So stockdunkel. Erst, als ich mich etwas weiter umsehe, sehe ich unter der Tür einen Lichtstrahl. Andre ist auf dem Flur, aber was macht er denn da? Will er etwa zu mir oder was hat er vor? Ich suche nach der Wanduhr, die Andre vor Kurzem befestigt hat. Es ist drei Uhr, noch recht früh. Ich bin noch müde und mein Körper tut etwas weh, weil ich in einer falschen Position eingeschlafen bin. Jetzt kann ich mich nicht einmal bewegen.

Plötzlich bemerke ich jemanden, der sich an meinen Körper schmiegt. Sein Duft, sein Körper... Ich erkenne diesen Mann überall. Es ist Andre, der seine Arme um mich geschlungen hat. Aber warum umarmt er mich? Nein, falsche Frage... Warum schläft er hier? Sonst bleibt er doch auch nicht die ganze Nacht, sondern nur für ein paar Minuten, bevor er mich dann alleine lässt. Er ist ein Rätsel.

Noch immer habe ich seine Worte im Kopf. Er muss in seiner Kindheit von der Rutsche gefallen sein, sonst würde er nie solche blöden Sätze aussprechen. Wie hat er es nur geschafft, dass jeder denkt, dass ich tot bin? Hat er etwa jemanden umgebracht, der mir ähnlich sieht, oder wie? Oh Gott, was, wenn ein Mensch meinetwegen sterben musste...? Das ist doch schrecklich. Er hat sich wegen mir wirklich seine Hände schmutzig gemacht. Warum tut er so etwas Dummes? Stopp! Ich muss mich beruhigen. Was, wenn er niemanden umgebracht hat? Vielleicht sagt er es nur so, um mir Angst einzujagen und um mich zu erschrecken. Ich sollte Andre noch einmal fragen, ob er mir die Wahrheit erzählt hat. Er würde doch niemals jemanden umbringen. Das macht man nicht. Das ist falsch und nicht richtig. Das ist absurd, krank und ekelhaft. So etwas hat er bestimmt nicht getan. Das glaube ich einfach nicht.

Ich kenne Andre doch. Er hat eine liebevolle Seite. So zärtlich und sanft. Er scheint in mich verliebt zu sein, wenn ich seinen Worten Glauben schenke. Wenn er mich berührt, dann wirkt er so erfüllt und zufrieden. Wenn ich ihn anlächle, umarme oder mit ihm rede und ihm Aufmerksamkeit schenke, freut er sich wie ein Kind. Er hat eine wunderbare und warme Seite. Er beschützt mich, unterhält mich, lenkt mich ab. Er zeigt mir, dass ich begehrt werde und dass ich wertvoll bin. Als ob ich alles für ihn wäre. Ich fühle mich dabei gut und bin glücklich, dass mich jemand lieb hat.

Dennoch darf ich seine andere Seite nicht vergessen. Diese abartige, hässliche Seite, die alles zerstören kann. Ich hasse es, wenn er seinen Verstand verliert und es an mir auslässt, mich schlecht behandelt, mich wie ein Gegenstand, sein Eigentum, behandelt. Ich bin nicht seins. Ich fühle mich durch diese Aussagen wie ein Hund, der seinem Herrschen folgen und gehorchen muss. Er bringt mich dazu, ihn zu hassen, ihn zu verabscheuen. Will er das etwa?

Ich empfinde etwas für ihn, aber ich weiß nicht genau, was es ist. Ich verstehe diese Beziehung mit ihm nicht. Was bin ich eigentlich? Liebe ich ihn überhaupt oder täusche ich mich? Bin ich überhaupt noch seine Gefangene oder seine Gefährtin? Es ist so schwer zu verstehen. Einerseits denke ich, dass ich ihn mag, aber sind das echte Gefühle, die ich für ihn hege? Und was würde passieren, wenn ich es ihm sagen würde...? Würde er mich nach oben lassen, nach draußen, mit mir ein Leben aufbauen? Kann ich die Tatsache herunterspielen, dass ich eigentlich von ihm entführt wurde? Könnte ich das einfach so vergessen? Und was, wenn er mit mir Schluss machen und sich in eine andere Frau verlieben würde, würde er mich verlassen, auf die Straße werfen, mich hintergehen? Hätte ich mich in ihn verliebt, wenn er mich nicht entführt hätte? Hätte unsere Beziehung dann eine Chance gehabt? Ich weiß es einfach nicht.

Irgendwann wird mir bewusst, dass mir dicke Tränen über mein Gesicht laufen. Es sind nicht viele, aber genügend, dass mein Gesicht nass wird. Ich weine, aber warum? Es gibt doch keinen Grund zum Weinen. Andre und ich sind in keiner Beziehung. Wir sind kein Paar. Wir sind etwas anderes, das ich nicht benennen kann.

,,Shh...Alles wird gut. Nicht weinen", flüstert eine besorgte Stimme und ich fühle eine Hand über meine Haare streichen. Es ist Andre, der anscheinend wach ist. Er versucht mich zu beruhigen, aber ich weiß nicht, ob er es schaffen wird. Ich fühle mich mies.

,,Nicht weinen, mein Schatz", wiederholt er und küsst mich auf die Wange. Ich bekomme eine Gänsehaut, die leider schnell verschwindet. Er hat ,mein Schatz' gesagt, aber meint er das ernst? Liebt er mich wirklich? Er sagt, dass alles gut sein wird, aber stimmt das auch? Kann ich ihm vertrauen? In meinem Kopf tauchen immer weitere Fragen auf; ich versuche, die Stimmen abzustellen, aber es klappt nicht besonders gut. Unglücklicherweise wird es nur noch schlimmer. Ich schließe meine Augen und presse mich an Andre, um mich an ihn zu kuscheln.

Wenigstens schlafe ich in seinen warmen Armen, die mich beschützen und mich nicht hergeben.

UnheilWhere stories live. Discover now