Elvira (X)

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Alles ist verschwommen. Ich sehe nichts, bin blind. Es ist dunkel. So furchtbar dunkel. Schwarz. Kein Licht. Keine Helligkeit. Angst macht sich in mir breit. Ein Druck auf der Brust, der immer größer wird, mir einen Haufen Energie abverlangt, mich entkräftet. Die Einsamkeit macht sich bemerkbar. Keiner ist hier an meiner Seite. Andre... Wo bist du? Ich weine, da ich mich hilflos fühle.

Plötzlich kann ich meine Augen öffnen und sehe meine Umgebung, trotzdem plagen mich starke Kopfschmerzen. Noch immer ist es etwas dunkel und schattig, aber die Lampen im Flur machen es etwas heller und vertreiben die Dunkelheit. Ich fühle mich sicher und vor dem Bösen beschützt. Ich brauche keine Angst mehr zu haben. Mein Herz beruhigt sich und ich kann endlich klar denken.

Langsam laufe ich den Flur entlang, aber ich stoppe, als ich etwas höre. Was ist das? Ich kaue wie verrückt an meiner Lippe, um meine Nerven zu behalten. Ich folge neugierig den Geräuschen und lande schließlich an einer Tür. Diese Tür beziehungsweise dieses Zimmer ist der Ort gewesen, an dem ich und Andre einen Abend zusammen verbracht haben. Der Tag, an dem Andre mir gesagt hat, dass ich offiziell tot bin. Warum ist er hier?

Ich hebe eine Augenbraue hoch, als ich feststelle, dass die Tür einen Spalt offen ist und ich einen Teil des Zimmers erkennen kann. Ich komme der Tür näher, aber stoppe, als ich diese Geräusche wieder wahrnehme. Mein Herzschlag hält für ein paar kurze Sekunden inne und  beschleunigt dann auf Hochtour. Gestöhne...

Ich weite meine Augen und halte den Türknopf fest. Soll ich aufmachen und ihn zu Rede stellen? Soll ich oder nicht? Ich spüre, wie mein Innerstes sich zusammenzieht. Er betrügt mich. Stopp, ich muss zuerst herausfinden, ob es stimmt. Ich gebe mir einen Ruck und verkneife mir meine Tränen, die hinaus wollen. Nein, nicht jetzt. Ich bin stark. Nicht weinen.

Ich blicke konzentriert hinein und schließe sofort meine Augen, als ich das Geschehen sehe. Ich beiße mir auf die Zunge, wobei ich kurze Zeit später Blut schmecke, und lasse dann die ersten Tränen raus, die ich nicht mehr aufhalten kann. Er betrügt mich. Andre betrügt mich mit einer anderen Frau. Ich schaue wieder hinein, da ich meinen Augen nicht traue, aber ich werde nur enttäuscht. Dieser Mistkerl. Dieser Arsch. Dieser Betrüger und Lügner.

Andre presst eine Frau an die Wand und küsst sie. Sie stöhnt wegen ihm. Sie hat ihre Arme um seinen Hals geworfen und er lässt es zu. Ich erkenne ihr Gesicht nicht, da Andre die Frau verdeckt. Ich sehe nur seinen Rücken, der zu mir gerichtet ist. Dennoch nehme ich ihre Gestalt wahr. Sie hat braune Haare, ist klein und wirkt dünn. Ich stelle fest, dass sie keine Angst vor ihm hat. Das Gegenteil von mir. Sie erwidert seinen drängenden Kuss mit Verlangen. Sie ist eine Schlampe und er ein verlogener Mistkerl. Wie kann er mir das nur antun? Angeblich würde er mich lieben... Ich wische mir die Tränen auf meiner Wange weg und beobachte die Situation weiter.

Andre küsst, grapscht und flüstert ihr irgendetwas zu, sodass sie laut aufstöhnt. Ekelhaft. Andre lässt seine Hand um ihren Körper wandern, als ob es das Normalste der Welt wäre, bis er an ihrer Brust ankommt. Er drückt zu und knetet, während sie nicht anders kann als einen lauten Schrei hinaus zu brüllen. Dann dreht er sie um, sodass nun er mit dem Rücken zur Wand steht und ich nun den Rücken der Frau betrachten muss. Sie hält sich an Andre fest und schmiegt sich an seinen starken Körper, dabei küssen sie sich. Ich verkrampfe mich etwas und in mir kommt fast der Gedanke hoch, hineinzustürmen und meine Ansprüche an Andre zu erwähnen, aber ich lasse es. Andre ist für mich der mieseste aller Arschlöcher überhaupt. Wie kann er mir das nur antun? Meine Tränen fließen immer weiter über mein Gesicht, wollen gar nicht stoppen. Irgendwann erkenne ich nichts mehr, sodass ich meine Augen für einen kurzen Moment schließen muss. Andre hat mir mein Herz gebrochen. Egal, was zwischen uns ist. Da ist ein Funken Liebe gewesen, den er jetzt zerstört hat. Ich halte das nicht mehr aus.

Plötzlich höre ich einen lauten Schrei, während ich vor mich hin schluchze. Ich schaue wieder auf die beiden Verliebten, aber diesmal ist irgendetwas seltsam. Andre beobachtet mich mit seinen eiskalten blauen Augen und durchbohrt mich damit. Er durchschaut, entschlüsselt mich. Er frisst mich auf, zerstört mich. Er hält mich an der Leine, an der Klippe und er weiß, was er tun muss, damit ich falle. Dieses grausame Lächeln auf seinem Gesicht bohrt sich tief in mein Gehirn, bringt mich zum Erzittern. Seine linke Hand ist an ihrer Kehle, seine rechte Hand ist nicht zu sehen, aber dann lässt er sie los und sie fällt achtlos auf den Boden. Mit einem lauten Aufprall landet sie auf der kalten Oberfläche. Ich blicke ihn schockiert an, aber seine Gesichtszüge ändern sich nicht. Er scheint amüsiert zu sein. Verdammt...

Ich blicke auf die Frau und merke, dass sie verblutet. Eine Blutlache breitet sich aus, ihre weiße Bluse verfärbt sich, ihr Körper zuckt etwas. Nach wenigen Sekunden wird mir bewusst, was hier los ist. Ich beobachte Andre, der mich noch immer lächelnd anstarrt und mich nicht aus den Augen verliert. In seiner rechten Hand hält er nun das Beweismittel, ein blutiges Messer, das er an ihr benutzt hat. Ich muss schwer schlucken und fühle meine trockenen Lippen, die anfangen, rissig zu werden. Andre hat jemanden umgebracht und das vor meinen unschuldigen Augen. Ich fange an, laut zu weinen. Immer lauter und lauter. Währenddessen lacht Andre so bitter und grausam, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. Die Frau ist tot. Einfach tot.

,,Elvira... Schatz, willst du nicht hereinkommen und mich umarmen? Ich habe dich heute so vermisst", sagt er und streicht sich mit seiner blutigen Hand über die Haare, wobei Blut von seiner anderen Hand auf den Boden tropft. Ich zucke zusammen und schüttele heftig meinen Kopf. Mein Atem kommt stoßweise, mein Herz beschleunigt sich, mein Körper produziert viel Adrenalin. Ich muss weg. Sofort. Leider ist es schwerer als gedacht. Meine Beine bewegen sich nicht, sondern knicken ein, sodass ich auf meine Knie falle. Ich habe Angst. Auf einmal macht Andre einen Schritt auf mich zu und kommt mir immer näher, doch ich kann nicht weg. Ich bin wie versteinert, gefesselt an diesem Ort. In mir kommt der Drang hoch, mich selbst umzubringen, bevor er es tut, aber ich schaffe es nicht. Ich kann nichts tun. Er hat die Macht über alles. Ich heule stärker.

Andre steht nun vor mir und blickt auf mich herab. So demütigend und beängstigend. Er sieht von hier gefährlich und wie ein Monster aus. Blut ist in seinem Gesicht, an seinen Händen und an seiner Kleidung. Diese mit roter Flüssigkeit bedeckten Hände berühren mich. Er kniet sich hin und fasst mit einer Hand meine Wange an. Dann nimmt er noch die andere Hand dazu, um dasselbe zu tun. Er drückt seine Nägel an meine Haut und hält meinen Kopf gut fest. Er lächelt immer noch so abscheulich. Die Atmosphäre ist bedrückend, brutal und stickig. Ich blicke in seine Augen und suche nach seiner liebevollen Seite, die er mir oft genug gezeigt hat. Ich hasse diese Seite, die er mir gerade zeigt.

,,A-Andre...", stottere ich und kämpfe mit mir selbst. Ich muss ihm sagen, dass er mir Angst einjagt und dass er aufhören soll, aber ich kriege es nicht hin. Ich schluchze und heule weiter. Mir fehlen die Worte. Ich habe Angst vor ihm, so sehr. Und er merkt es, er fühlt es.

,,Elvira, shh...ich bin bei dir. Du brauchst doch keine Angst zu haben", flüstert er und zieht mich in seine Arme. ,,Sie ist ein Niemand. Sie musste sterben, da sie unser Glück zerstören wollte. Ich musste handeln. Solche Menschen haben es nicht verdient, lebendig zu bleiben." Er küsst mich heftig, leckt, beißt und übernimmt meinen Mund. Er genießt es, aber ich kann es nicht. Ich ziehe mich zurück, aber er drückt meinen Kopf zu sich. Ich versuche, ihn von mir zu stoßen, aber er zieht mich immer enger zu sich. Ich kann nicht entkommen und ich weiß nicht, was ich tun soll, um ihn aufzuhalten.

,,Stopp...s-stopp...", sage ich mit Mühe zwischen den besitzergreifenden Küssen und schnappe zusätzlich nach Luft, um nicht zu ersticken. Er soll aufhören, aber anscheinend versteht er es nicht. Er drückt mich auf den blutigen und kalten Boden und beugt sich über mich. Er küsst mich weiter und drängt sich an mich. Ich will das nicht. Er muss aufhören, stoppen. Das ist nicht Andre. Das ist jemand, der wie Andre aussieht. Dies muss die Erklärung sein. Andre würde mir nie so etwas antun. Ich schließe meine Augen, beiße auf seine Lippe und lasse nicht los. Dieser merkwürdige Andre schreit auf und packt mich am Hals. Er drückt zu und zu. Meine Augen weiten sich, ich zappele herum und versuche mich zu wehren, aber es ist schwierig. Ich blicke ihn mit Tränen in den Augen an, aber er lächelt mich mit diesem abartigen Grinsen an. Das kann nicht Andre sein. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie er das Messer nimmt und auf mich zielt. Danach sehe ich nur noch Schwarz.

Plötzlich wache ich schweißgebadet auf und merke, dass ich am ganzen Körper stark zittere. Ich schaue mich panisch um und stelle fest, dass Andre verschwunden ist. Ich atme tief ein und aus. Das war nur ein Alptraum.

UnheilWhere stories live. Discover now