14 | Wikingerschach

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2.256 Wörter

»Wie abgehauen? Nein, er musste weg. Irgendwas dringendes ist zu Hause vorgefallen. Wie kommst du denn darauf, dass er abgehauen sei?« Ryan mustert mich mit einem prüfenden Blick und ich winke ab. Ich will nicht, dass er von dem kleinen Zerwürfnis zwischen Roy und mir erfährt. Dann denkt er nur noch schlechter von mir. Obwohl mir das eigentlich egal sein sollte.

»Weiß nicht! Ist auch egal!« Ich gehe an dem Dunkelhaarigen vorbei, ums Auto rum und steige ein. Mit seinen grünen Augen wirft Ryan mit noch einen skeptischen Blick zu, steigt dann aber selbst ein. Er scheint mir nicht wirklich zu glauben, fragt allerdings auch nicht weiter nach. Wahrscheinlich ist es ihm nicht wichtig genug, eine Antwort zu erhalten.

»Roy würde niemals einfach abhauen«, lässt er mich dennoch beiläufig wissen, ehe er den Motor startet. Seine Stimme ist ungewöhnlich sanft und ruhig. »Das entspricht nicht seinem Charakter.« Er legt den Rückwärtsgang ein, dreht sich leicht nach hinten und setzt aus der Parklücke raus.

Wenn Ryan mit seinen Worten erreichen wollte, dass ich beruhigter bin, dann hat er das Gegenteil bewirkt. Wenn es nicht Roys Charakter entspricht, einfach abzuhauen, dann muss etwas wirklich schlimmes passiert sein. Sonst würde er nicht alles stehen und liegen lassen und Hals über Kopf nach Portland aufbrechen.

Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen, stöhne leise und denke an den Anruf, den er heute vormittag bekommen hat. Deswegen war er nach meiner Frage so aufgewühlt. Gott, ich bin so ein Vollidiot! Bei dem Telefonat hat er wahrscheinlich die nächste Hiobsbotschaft bekommen und ich habe nichts besseres zu tun, als in alten Wunden zu pulen.

Er hatte so schon genug um die Ohren und dann konfrontiere ich ihn auch noch mit völlig falschen Schlussfolgerungen meinerseits. Kein Wunder, dass er am Ende so durch den Wind war. Er wusste wahrscheinlich schlicht nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Deswegen hat er zum Schluss auch nicht mehr richtig geantwortet.

Das ich nicht einmal meine Klappe halten kann! Verzweifelt schüttle ich den Kopf, der immer noch in meinen Händen liegt, um die Gedanken etwas zu vertreiben. Wenn Roy wieder zu Hause ist, muss ich mich auf jeden Fall bei ihm entschuldigen. Am liebsten würde ich es jetzt schon tun, aber ich habe seine Handynummer nicht und ich glaube auch nicht, dass er sich jetzt noch zusätzlich mit mir befassen möchte.

»Hey, was immer du gemacht hast, er ist nicht deswegen weg.«

Irritiert darüber, dass mein Mitfahrer mit mir spricht, blicke ich auf und schaue zu Ryan. Sein Blick ist nach vorne gerichtet, beide Hände ruhen auf dem Lenkrand und trotzdem wirkt er nicht so abweisend wie die letzten Male. Er scheint zu merken, dass ich mir wegen etwas Vorwürfe mache.

»Warum bist du so nett?« Meine Stimme klingt grober als ich es eigentlich beabsichtigt habe. Zum Glück antwortet der junge Mann nicht genauso unfreundlich. Stattdessen beobachte ich unglaubig, wie sich ein leicht brüskes Lachen aus seiner Kehle löst. Es ist nicht humorvoll, aber es ist ein Schritt in Richtung ›Nettheit‹.

»Wäre es dir lieber, wenn ich wieder unfreundlich bin?«, grummelt er. »Ich bin kein Unmensch, ich lasse meinen Unmut nur oft an anderen Menschen aus. Aber ich merke, wenn diese sich Vorwürfe machen.« Das hätte ich nicht von ihm gedacht. »Allerdings will ich mir jetzt auch nicht deine Probleme anhören. Echt nicht!« Er löst eine Hand vom Lenkrand und schaltet Musik an. Diesmal ist sie ertragbarer als beim ersten Mal. Ich muss sogar gestehen, dass mir das Lied ganz gut gefällt.

Vor der WG angekommen, schaltet Ryan kommentarlos den Motor ab, steigt gemeinsam mit mir aus und verrieglt das Auto, geht zur Tür.

»Wo sind die anderen?«, frage ich drinnen.

Linkshänder küssen besser ✔Where stories live. Discover now