6 | Genauso schnell wie früher

7.7K 589 335
                                    

2.414 Wörter

Pünktlich um zehn schließe ich die Ladentür ab und ziehe das Gitter vor. Mein Magen hängt mir bereits in den Kniekehlen. Seit ich heute bei mir im Wohnmobil war, habe ich nichts mehr gegessen.

Da Roy noch nicht da ist, setze ich mich vor der Tankstelle auf die Bordsteinkante und lege meine Tasche neben mich. Anschließend spiele ich gedankenverloren mit dem zierlichen, blauen Stoffarmbändchen an meinem linken Handgelenk. Meine Freundin hat es gemacht und mir vor meiner Abreise geschenkt, damit ich nicht vergesse ihr ein Souvenir von meiner Reise mitzubringen. Bis jetzt habe ich ihr aus jeder Stadt, in der ich länger haltgemacht habe, ein Souvenir mitgebracht.

Eine kleine Schneekugel aus Fayetteville, ein selbstgebasteltes Fotoalbum aus Lexington, Gewitterwolkenohrringe - weil sie Gewitter so liebt - aus Macon, ein kleiner Zebraanhänger aus dem Zoo in Montgomery, ein Armbändchen mit Michel Jackson typischen Anhängern aus Jackson und Blumensamen aus Shreveport. Ist nicht alles das Originellste, aber ich glaube Sharon wird es trotzdem gefallen.

Mittlerweile bin ich schon vier Monate und drei Wochen unterwegs. In diesen vier Monaten und drei Wochen bin ich zweiundzwanzig geworden, habe sechs Bundesstaaten durchreist, schon zwei Autopannen gehabt, wurde ausgeraubt und habe diesen Roadtrip manchmal mehr als nur einmal bereut. Aber momentan scheint er ganz gut zu laufen, bis auf die erneute Panne mit meinem Wohnmobil.

Ein Auto hält direkt vor mir am Straßenrand. Der Fahrer lehnt sich über den Beifahrersitz und kurbelt das Fenster runter. »Sie sollten einsteigen, Miss. Abends so ganz allein am Straßenrand zu sitzen, ist nicht sicher«, lächelt Roy mich an.

Ich stehe auf, nehme meine Tasche und stelle mich vor das geöffnete Fenster. Frech grinsend frage ich zurück: »Und in Ihrem Auto ist es sicherer, Sir?«

»Das müssen Sie herausfinden, schätze ich!«

»Dann würde ich vorschlagen Sie öffnen mir aber mindestens die Tür«, sage ich gespielt eingeschnappt.

»Aber natürlich. Wie unhöflich von mir.« Roy zieht seine Prothese aus und kommt rasch vorne ums Auto rumgelaufen. Am Seitenspiegel bleibt er stehen, greift mit links nach der Tür und öffnet sie. Und ehe ich genau über meinen nächsten Satz nachdenken kann, ist er mir auch schon rausgerutscht.

»Der andere Arm gehört aber eigentlich auf den Rücken.« Vor Schreck schlage ich mir die Hand vor den Mund und schaue ihn mit großenAugen an. »Gott, 'tschuldigung! So war das nicht gemeint.«

Roy jedoch fängt einfach an zu lachen. »Da haben Sie völlig recht! Tut mir leid! Ich werde beim nächsten Mal darauf achten.«

Beschämt und mit gesenktem Kopf steige ich ins Auto ein und Roy schmeißt die Autotür hinter mir zu. Wie konnte ich nur so einen Spruch vom Stapel lassen? Er hat zwar darüber gelacht, aber es hätte ihn auch ernsthaft verletzen können. Gott, kannst du nicht erst nachdenken, bevor du sprichst?

Die Tür auf der anderen Seite geht auf. Roy nimmt die Prothese vom Sitz, zieht sie sich wieder an und steigt anschließend ins Auto. Warum hat er sie gerade eben überhaupt ausgezogen? Er trägt sie generell nur wenn er Auto fährt. Warum? Wenn er beide Arme benutzen könnte, wäre doch sicher vieles leichter. Trotzdem frage ich ihn nicht danach. Mit krebsroten Wangen wende ich mich ab und starre aus dem Fenster.

»Hey, der Spruch muss dir nicht peinlich sein«, sagt er besänftigend, als er merkt, dass ich seinen Blick meide. »Irgendwie war es erfrischend. Die Meisten schauen immer nur peinlich berührt weg, wenn sie mich sehen und trauen sich nicht mehr als Hallo undTschüss zu sagen.«

Ich drehe mich leicht zu ihm um. »Hab ich doch auch erst!«

»Naja, aber du bist danach nicht direkt abgehauen.«

Linkshänder küssen besser ✔Where stories live. Discover now