10 - etwas Gutes

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Es war Montagmorgen und obwohl ich meine Eltern angefleht hatte, hatten sie mich in die Schule geschickt, mich sogar bis vor den Haupteingang gefahren, sodass mir keine andere Wahl geblieben war als hineinzugehen. Ich hätte natürlich auch sitzen bleiben können oder weglaufen, aber dazu fehlte mir schlichtweg der Mut und die Kraft. Meine Mutter hatte fröhlich gesagt, dass sie glaubte, dass es an der Zeit war mich meinem Leben zu stellen. Die Art und Weise wie sie das gesagt hatte, hatte mich beeinflusst, ja sogar ein bisschen motiviert. Daher lief ich nun durch die langen Korridore der Schule. Es kam mir vor als würden mich alle anstarren. Als sei ich ein Außerirdisches, welches noch nie zuvor in diesen Gängen gewandelt war und von dessen bloßer Berührung man sterben könnte.
Die vergangene Party konnte man auf den Gesichtern der Schüler nicht mehr sehen. Alle sahen perfekt und erfrischt aus. Die Gesichter der Mädchen waren mit schönen Farben geschminkt und die Jungs hatten ihre Baseballcaps nicht tief ins Gesicht gezogen.  Ich hingegen musste aussehen wie ein Zombie, der kein Auge zu getan hatte.
Es schien mir, als wäre die ganze Verbundenheit die ich während der Party gespürt hatte, nie da gewesen, als sei alles reine Fantasie und pure Einbildung gewesen. Fast so, als sei der Alkohol Schuld gewesen, dass wir geredet, gelacht und getanzt hatten.
Trotzdem lächelten mich einige Schülerinnen an, an die ich mich nicht erinnern konnte. Ich ignorierte sie und richtete meinen Blick stets gerade aus.
Wie konnten sie alle weiterleben, wenn doch eine Schülerin gestorben war. Eine so schöne Schülerin, mit einer großen Lebensfreude. Mich hätte es an ihrer Stelle erwischen müssen.
Ich hörte sie hinter vorgehaltenen Händen tuscheln und ich hörte Isas Namen. Ich hörte wie sie sagten, dass ich ihnen leidtat, weil Isa tot war. Weil ich Isa verloren hatte.
Der Gang bis zum Klassenzimmer war mir noch nie solang vorgekommen und auch im Unterricht wurde es nicht besser. Die Minuten schienen zäh wie Kaugummi zu sein und die Uhr tickte unaufhörlich laut, sodass ich mich kaum noch konzentrieren konnte. Die Lehrer behandelten mich wie ein rohes Ei, es war schrecklich.
Dabei wusste ich noch nicht einmal ob sie das wegen Isas Tod oder wegen meiner Depressionen taten. Sie begrüßten mich alle so herzzerreißend freundlich, dass ich die Künstlichkeit schon fast sehen konnte. Hohe Frauenstimmen mit warmherzigen Lächeln, bei dem sie kaum die Zähne auseinander bekamen und kräftiges Händeschütteln von der männlichen Lehrerschaft aus. Keiner von ihnen erwähnte Isa mit Namen und ihr Platz war weg, als wäre er nie dagewesen. Als hätte man die Tische extra über Nacht neu angeordnet. Ich saß in jedem Fach ziemlich weit vorne. Die Lehrer gaben mir haufenweise Blätter mit und notierten fleißig irgendwelche Seiten, die ich zum aufarbeiten lesen, und am besten noch verstehen, könnte. Stets nickte ich nur höflich und nahm die Stapel an mich, die ich in meinem Rucksack  verstaute.
In der Pause schaute ich auf das schwarze Brett, wenigstens hier hätten sie doch immerhin ein Foto von Isa aufhängen können, mit so einer schwarzen Trauerschleife. Wenn auch nur ein schnulziger Spruch dabei gewesen wäre, es hätte ihr sicher viel bedeutet. Ach was, ihr hätte das nichts bedeutet, aber mir. Es wäre erträglicher zu wissen, dass getrauert wird oder man wenigstens den Anstand dazu besaß so zu tun als ob.
Aber nichts. Noch nicht mal eine Todesanzeige von Isa hing hier. Dabei hätte auch schon ein kleines Kreuzchen vor ihrem Namen gereicht, Isa, nein Isabelle.
Am meisten bereute ich, dass ich Isa nicht gestanden hatte, wie sehr ich sie geliebt hatte. Dass sie mein Leben gewesen war und dass ich ihr dankbar war, dass sie mir den Wert des Lebens gezeigt hatte. Dank ihr war ich wieder hier in der Schule, dank ihr konnte ich lachen und meinen Eltern in Worte fassen was ich fühlte. Isa hatte mir tatsächlich gezeigt wofür es sich lohnte zu leben und jetzt war sie verschwunden und ich konnte meine Erkenntnis nicht mehr mit ihr teilen.
Ich wollte nichts lieber als bei Isa sein, aber noch einmal würde ich mir meine Pulsadern nicht aufschneiden, Isa zuliebe. Sie hätte gewollt, dass ich weiterlebe und nicht aufgebe.
„Entschuldigung, kannst du mir vielleicht verraten wo das Sekretariat ist?" sprach mich ein grünäugiges Mädchen an, welches ich noch nie zuvor gesehen hatte. „Ich bin neu hier." fügte sie hinzu, als sie meine Verwirrtheit bemerkte. Sie trug eine weiße Bluse und eine helle Jeans. Ich dachte daran, was Isa jetzt getan hätte. Wahrscheinlich hätte sie davon gesprochen, dass Gutes immer zu einem zurückkam. Isa hatte an Karma geglaubt. Und an die Liebe. Isa hatte an vieles geglaubt, aber am meisten, glaubte ich, hatte sie an mich geglaubt. Dass ich leben würde und zwar richtig leben und nicht einfach nur existieren. Sie hatte oft von den Unterschieden gesprochen, die zwischen der bloßen Existenz und dem Leben lagen. Wahrscheinlich war sie deshalb immer so verrückt gewesen. Sie wollte leben und das hatte sie, in vollen Zügen hatte sie gelebt. Wahrscheinlich hatte Isa mehr gelebt als der Rest auf dieser Schule. Langsam löste ich mich aus meiner Starre und antwortete lächelnd: „Natürlich, ich bring dich direkt hin." Denn zufälligerweise musste ich in die selbe Richtung. Isa hätte es Schicksal genannt oder Glück. Vielleicht hätte sie es auch einfach nur mit einem frechen Lächeln quittiert, aber sicherlich hätte sie diesem Mädchen geholfen. So war Isa gewesen, hilfsbereit und sarkastisch und ich würde mich immer an ihre Lebensweisheiten halten, denn sie hatten mich zurück ins Leben gebracht.
Dankbar lächelte mich das neue Mädchen mich an. Es war ein warmes Lächeln und legte sie ihren Kopf ein wenig schief. Ich bedeutete ihr zu folgen und erklärte ihr kurz unsere Schule, so wie Isa mir das Leben erklärt hatte. Lächelnd stellte sie sich dann vor: „Ich bin im übrigen Belle, Annabelle."
Isa hatte Recht, Gutes kam immer wieder zu einem zurück.

Wofür es sich zu leben lohntTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang