9 - etwas Kurzes

87 19 2
                                    

„Ab Monatg gehst du also wieder in die Schule?" fragte mich Isa und wippte dabei mit ihren Zehen nach vorn und nach hinten. Ich nickte. Tatsächlich hatte mein Psychologe mich nach meinen letzten Sitzungen für immer mehr belastbar gehalten. Meinen Eltern hatte er gesagt, dass ich mittlerweile immer mehr lebensbejahend war und sie hatten glücklich zugestimmt, dass sie diese Veränderung auch bemerkt hätten.
Ich sei selbstbewusster geworden und glücklicher. Fast so wie als Kind, hatten sie gesagt.
Mein Psychologe war der Meinung, dass ich langsam wieder zur Schule gehen sollte. Ich würde das Jahr dann vielleicht nicht unbedingt wiederholen müssen. Ich müsste nur fleißig sein. Niemand hatte mich gefragt ob ich überhaupt fleißig sein wollte, aber anscheinend erwarteten meine Eltern es von mir.
Natürlich entstand da wieder neuer Druck, aber Isa hatte mich beruhigt, dass sie mir helfen würde und irgendwie war ich auch ein bisschen zuversichtlich.
Isa hatte ihre Schultasche  achtlos in eine Ecke meines Zimmers geschmissen. „Das sind fantastische Neuigkeiten! Das müssen wir feiern!" verkündete sie und drehte dabei aufgeregt an ihrem Konzertbändchen, welches schon so ausgefranst war, dass man es nicht mehr als solches erkennen konnte.
„Und wie?" fragte ich skeptisch. „Weiß nicht, es ist Samstagabend, irgendwo wird sich schon eine Sektflasche und eine Party finden lassen." lachte sie und zückte ihr Handy. „Party?" ich verzog den Mund als sei ich angewidert. Genauso musste ich ausgesehen haben, als ich das erst mal Alkohol getrunken hatte, angewidert. Ich war kein Partymensch, laute Musik, zu der ich mich nicht bewegen konnte und Menschen, die ich nicht kannte.
„Komm schon, Ian!", versuchte Isa mich umzustimmen, „Das Leben ist zu kurz um nicht auch mal etwas Neues auszuprobieren!" Sie hielt mir ihr Smartphone entgegen, auf dessen Display die Nachricht einer unserer gemeinsamen Freunde, mit dem wir in eine Klasse gingen, stand. „Darf dieses Mädchen diese Party überhaupt veranstalten, ich meine da werden doch sicher noch mehr ungeladenen..." begann ich, wurde jedoch sofort von Isa unterbrochen. „Keine Ausreden, das Leben ist zu kurz für Ausreden! Schwing dich in schnieke Klamotten, ein Hemd oder so und wir treffen uns in einer viertel Stunde vor deiner Haustür!" Sie sprang enthusiastisch auf und verließ meine Zimmer. Etwas anderes blieb mir nicht übrig, meine Eltern würden diese Party sowieso nur bejahen. Sie würden alles bejahen, wenn ich nur wieder mehr menschlichen Kontakt hätte.
Und so kam es wie es kommen musste, dass Isa und ich keine Viertelstunde später vor meiner Haustür standen und wir in ein Taxi stiegen, in dem bereits zwei Freunde saßen, die ich viel zu lange nicht mehr gesehen hatte. Mit einem einfachen Handschlag begrüßte ich sie lächelnd. „Man, gut, dass du heute dabei bist." freute sich Rico. „Das wird der Hammer!" stimmte Glenda ihm zu. Isa grinste triumphierend und köpfte kurze Zeit später bereits die erste Sektflasche aus der ich je trinken würde. „Auf Ian!" kreischte Rico über die lauten Bässe der Musik hinweg. Er und Glenda hatten schon vor geglüht, wie man so schön sagte und ich hatte festgestellt, dass sie damit nicht die einzigen waren. Jedoch war ich der einzige der noch komplett nüchtern war. Isa hatte sich bereits beim Betreten des Hauses frech einfach einen roten Plastikbecher von einem der anderen Gäste geschnappt und es runtergekippt, nur um dem armen, verdatterten Kerl den leeren Becher hinterher wieder in die Hände zudrücken und, sich an mich kuschelnd, mit uns weiter in das Haus zu verschwinden.
Sekt war ekelhaft, aber Isa ermutigte mich die ganze Zeit, dass das Leben doch zu kurz war um keinen Spaß zu haben. „Man", ich drehte mich um als ich die Stimme hörte, „schön dich mal wieder zu sehen!" „Klar!" lachte ich und trank den letzten Schluck meines Bechers aus. Der Typ, den ich nicht zuordnen konnte, klopfte mir noch kurz auf die Schulter und torkelte dann weiter.
Ein paar Leute spielten Trinkspiele und immer wieder wurde ich dazu aufgefordert mitzuspielen. Es war merkwürdig, ich hatte gedacht die Leute würden über mich lästern, es komisch finden, dass ich plötzlich hier war, aber stattdessen lachten sie gemeinsam mit mir und brachten mich dazu mehr Alkohol zu trinken, als ich es vorgehabt hatte.
Ich musste irgendein Mädchen ihr Top ausziehen und einem anderen einen Knutschfleck machen. Obwohl ich mich absolut ungeschickt anstellte grölten alle, insbesondere die, zu denen ich früher mal besonders starken Kontakt gehabt hatte.
Und ich grölte mit, wenn jemand ein Glas verschüttete oder ein Mädchen küssen musste. Ich kannte keines der Lieder die gespielt wurden und sang trotzdem lautstark mit. Es war befreiend und am erstaunlichsten war, dass es mir tatsächlich gefiel hier zu sein. Mit Menschen die ich ein bisschen kannte und Menschen die ich mal ganz gut gekannt hatte. Es war wie in den ganzen Filmen, nur besser, denn es war real und fand nicht in meinem Kopf statt.
Isa wich nicht von meiner Seite und obwohl ich nie etwas mehr gewollt hatte, als dass Isa nie wieder von meiner Seite wich, fing es an mich zu nerven. Zuerst bei den Trinkspielen und den Pflichtspielen. Sie hatte mir geraten nichts Unüberlegtes zu tun, obwohl sie selbst doch die Meisterin in Unüberlegtem war. Es war als hätte sie Angst, ich würde ihr entgleiten und vielleicht, vielleicht entwuchs ich ihr auch ein wenig auf dieser Party.
„Isa,", schnauzte ich sie an, als sie sich wieder an mich hängte, „Du nimmst mir komplett die Luft zum atmen!"
Sie verstand es nicht, vielleicht lag es am Alkohol, vielleicht daran, dass sie sich Sorgen um mich machte, weil ich noch nie zuvor so viel getrunken hatte. „Hey, wir sollten tanzen!" schlug Isa vor und zog mich mit sich, sodass ich mich im nächsten Moment eng umschlungen mit Isa tanzend wiederfand. Die Musik war laut und ließ mein Herz höher schlagen, im Takt der Bässe schlagen. Unsere Körper schmiegten sich aneinander und ihre Hand umschlang meinen Hals, während ich es schaffte ihre Taille festzuhalten. Das Lied war keine Schnulze, es war laut und modern. Wie Isa immer gewesen war, laut und modern. Zumindest war so die Isa gewesen die ich kennen gelernt hatte und nicht diese anhängliche Klette.
Es war das ersten mal, das wir uns so nahe kamen, aber obwohl ich stets den Drang verspürt hatte sie zu küssen, brachte ich es nicht über mich. Nicht weil ich nicht konnte, sondern weil ich tatsächlich in diesem Moment nicht wollte. Das Lied war jedoch viel zu kurz, als dass ich Isa hätte so sehr näherkommen können und plötzlich verloren wir uns in der Menge und fanden uns nicht wieder.
Isa hatte Recht, das Leben war viel zu kurz.

Wofür es sich zu leben lohntWhere stories live. Discover now