1 - etwas Unvorhersehbares

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Ich saß auf meinem Bett, alleine. Wie jeden Wochentag seit dem Tag. Mein Bett, meine Festung. Mein Kopf mein Gefängnis.
Vor mir lag irgendein Buch, das ich lesen sollte, wenn ich könnte und mich danach fühlte. Ich würde mich nie danach fühlen, aber meine Eltern bestanden darauf, es wenigstens zu versuchen. Immerhin war es ein Grund mich in meinem Zimmer zu verschanzen, während alle anderen die Wochentage in einer Lernanstalt verbrachten, die uns so rein gar nichts beibrachte, außer von toten Menschen und deren Taten zu wissen. Nicht sehr nützlich. Hieß es nicht immer wir sollen nicht zu sehr in der Vergangenheit leben? Kein Wunder, dass ich, laut meinem Arzt, meiner Schule, meinen Eltern und allen anderen Menschen, krank war. Depressiv war.
„Weißt du, Ian, deine Depressionen sind scheiße!" verkündete Isabelle, nachdem sie, wie immer, ohne anzuklopfen, in mein Zimmer gestürmt war.
Schulterzuckend antwortete ich: „Ich weiß." Ich machte mir keine Mühe mehr es abzustreiten oder dagegen anzukämpfen. Es war sinnlos und wie so oft fragte ich mich, warum ich noch hier war und meine Pulsschlagadern so wunderbar funktionierten.
Isa, wie ich sie lieber nannte, da der Name Isabelle einfach nach einer reichen Tusse klang, war ehrlich. Ehrlicher als alle anderen Menschen die ich kannte.
Wenn man krank war, kamen die Menschen mit Mitleid zu einem und wussten nicht, was sie in deiner Gegenwart sagen oder nicht sagen durften.
Sogar meiner Mutter war es bereits einige Male so ergangen. Wie oft hatte sie schon die Hände vor den Mund gehalten, weil sie unbewusst und ungewollt auf meine Depressionen hingewiesen oder sie außer Acht gelassen hatte. Jedes mal war sie dann voller Reue.
Mein Vater war da robuster, obwohl auch er mitlitt, aber er war sowieso so gut wie nie Zuhause. Aber was konnte man schon von Eltern erwarten?
„Hörst du mir eigentlich zu?" riss Isa mich wütend aus meinen Gedanken. Sie war die Einzige die das konnte, die das durfte.
„Mir reicht's!" verkündete sie laut und ich befürchtete für einen kuren Moment, sie würde gehen, für immer gehen und mich meinem Schicksal überlassen. Denn sie war die Einzige, dank der mein Leben wenigstens annähernd erträglich war.
„Deine Pillen helfen nicht, der Psychodoc verdient sich eine goldene Nase an dir und alle fragen, ob es dir nicht endlich besser geht." Bedauernd blickte ich in ihre schönen, smaragdgrünen Augen. Ich konnte doch nichts dazu, konnte es nicht ändern wie es gekommen war. Das Leben war halt so. Und ich war halt so. Daran konnte man nicht rütteln, egal wie sehr sich das alle einbildeten. Ich wartete nur noch auf den Tag an dem ich endlich sterben konnte. An dem sie alle es mir endlich erlaubten zu gehen.
„Du hast einfach vergessen wie man lebt." stellte sie leise fest und ich meinte einen Anflug von Trauer in ihren Augen zu sehen.
„Wie kann man es vergessen? Wie kann man es wieder lernen?" fragte ich gleichgültig. Sie hatte ihre Hände in ihre Hüften gestemmt und besah mich mit einem strengen Blick, doch plötzlich hellte sich ihre grimmige Miene auf: „Ich werde dir zeigen, wofür es sich zu leben lohnt!"
Sofort kam Isa näher und versuchte mich hochzuziehen, indem sie nach meinen Händen griff. Sie war jedoch wesentlich leichter als ich und so fiel sie zurück als ich ein wenig nachgab, nachdem ich anfangs noch mein volles Gewicht auf mein Bett konzentriert hatte. Erschrocken von der Situation verlor ich ebenso das Gleichgewicht, konnte mich jedoch noch halten um nicht auf sie zu fallen.
„Das ist Leben," lachte sie los, „so etwas, ist nicht  vorhersehbar."
Ihre grünen Augen strahlten eine solch positive Energie aus, dass es mir so vorkam, als ob sie all das Gute in der Welt inne hatte.
Sie glaubte nicht an das Böse und vertraute jedem Fremden blind, eine Eigenschaft die ich beneidete.
„Lass uns rausgehen!" forderte sie plötzlich. Ich verstand Isa nicht, hatte es noch nie und würde es auch nie. Erklärungen, ebenso wie Antworten waren ihr Fremdworte. Sie zeichnete sich nur durch Taten aus und das meistens durch ziemlich merkwürdige Taten.
„Es regnet." entgegnete ich missmutig. Isa fand Regen spannend, spannender als einen sonnigen Tag, an dem alle Menschen draußen waren. Sie sagte, dass man an Regentagen wahre Optimisten erkenne.
Vielleicht hasste ich deshalb den Regen.
„Wenn du nicht willst, gehe ich alleine." drohte sie. Ich allerdings, wollte endlich allein sein. So sehr ich sie liebte, Isa war die zugleich anstrengendste Person, die ich kannte. Ihre Ungeduld kannte keine Grenzen und ihr loses Mundwerk genauso wenig. Und allein sein war erträglich, weil ich dann nicht das Gefühl hatte so zu tun als könnte ich tatsächlich irgendwann wieder leben.
Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand sie hinaus, wie ich es erwartet hatte. Ich stand langsam auf, um sie vom Fenster aus zu beobachten.
Isa sprang von der letzten Treppenstufe in eine Pfütze, wodurch das Wasser in alle Richtungen spritzte und das Spiegelbild des Regenbogens zerstörte.
Isa sah zu meinem Fenster hoch, ich hätte wissen müssen, dass sie wusste, dass ich ihr zusah. Peinlich berührt lief ich rot an. Sie winkte mir zu und deutete zeitgleich auf den Regenbogen. Ihr Mund formte Worte, die ich nicht verstand, weshalb sie genervt mit den Augen rollte. Sie hasste es wen ich alles mit einem Achselzucken quittierte.
Normalerweise hätte ich jetzt mein Fenster geöffnet, aber mir fehlte der Schlüssel dazu. Seit bei mir Depressionen diagnostiziert worden waren, hatten meine Eltern wohl Angst, ich könnte aus dem Fenster springen oder so. Dabei war das ein absolut dummer Tod, viel zu viele Menschen die mich sehen würden. Ein letzter Schrei nach Aufmerksamkeit, aber darum ging es mir nicht.
Wenn ich das nächste mal einen Selbstmordversuch wagen würde, würde ich Tabletten nehmen. Aber leider wurden auch meine Schlaftabletten strengstens von meiner Mutter und meinem Arzt kontrolliert und Isa wäre mir sicher keine Hilfe. Sie wollte mich sowieso lebendig sehen, warum auch immer. Ich verstand nicht warum Isa ausgerechnet mich als ihren besten Freund ausgesucht hatte, anstatt ein ebenso hübsches Mädchen mit dem man auch über Mädchenthemen reden konnte. Vielleicht war es aber genau das, Isa war nicht wie jedes andere Mädchen. Sie interessierte sich nicht für Mode, Trends und super niedliche Tierbabys ließen sie total kalt. Mich nicht, weshalb ich auch jedes mal laut zu quietschen anfing, wenn Isa mir Fotos von ihrer Katze zeigte.
Isa gestikulierte immer noch unter meinem Fenster wild herum und ich beschloss, ehe die Nachbarn auf komische Gedanken kamen, zu ihr hinunter zu gehen. Hier hielt mich sowieso schon jeder für verrückt, mir konnte es ja eigentlich egal sein, aber ich musste Isa nicht noch mit in dieses Loch ziehen.
„Du gehst raus, Schatz?" ertönte die Stimme meiner Mutter aus der Küche, als ich die Zwischentür öffnete. Ich nickte als könnte sie das sehen und bejahte dann noch schnell wörtlich. „Zieh' dir deine Regenjacke an, es schüttet wie aus Eimern." riet sie mir und stand schon an meiner Seite um mir, wie einem Kleinkind, in die Regenjacke zu helfen. „Schon gut," wehrte ich ab, „Isa und ich bleiben nicht lange draußen." Meine Mutter sah wenig begeistert aus und ich konnte nicht ausmachen ob es daran lag, dass ich die Jacke nicht anzog, da sie wahrscheinlich vermutete ich sei insgeheim aus Zucker und deshalb so „super niedlich wie am ersten Tag" oder weil ich mit Isa raus ging.
Ich verstand nicht wieso, aber meiner Mutter gefiel Isa nicht sonderlich und wahrscheinlich dachte sie, ich würde irgendwann mit diesem vorlauten Mädchen Kinder zeugen können. Aber wenn es nach Isa ging, würde das sicher niemals eintreffen.
Ohne auf eine Antwort meiner Mutter zu warten, stürmte ich hinaus und schlug die Türe zu. „Na endlich!" begrüßte mich Isa grinsend und ein Hauch von Triumph schwang in ihrer Stimme mit. Ihre Haare hingen klatschnass an ihren Kopf und ihre Kleidung klebte an ihrem schönen Körper. Ihre Schminke jedoch, wenn sie überhaupt welche trug, denn das wusste ich nicht, kannte mich mit so  Mädchenkram schließlich nicht aus, saß makellos. „Tu' nicht so, als hättest du gewusst ich würde dir folgen." grummelte ich ertappt. Aber sie lachte nur: „Aber genauso ist es!"
Wie ein kleines Kind begann sie in die Pfützen zu springen und man hielt sie so sicher nicht für eine junge Erwachsene, wie mein Vater uns immer zu nennen pflegte. Denn das sollte ich sein, erwachsen, vernünftig, darauf aus etwas aus diesem Leben zu machen.
Die Regentropfen durchweichten meine Kleidung und ich begann zu lächeln, während der Regenbogen immer heller zu werden schien. „Siehst du, hättest du heute morgen gedacht, dass du am Nachmittag den Regen lieben würdest?" fragte mich Isa und hielt ihr Gesicht dem Himmel entgegen. Stumm schüttelte ich mit dem Kopf.
Isa hatte Recht, das Leben war unvorhersehbar.

Wofür es sich zu leben lohntTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang