4 - etwas Lehrreiches

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„Was liest du da?" wollte Isa von mir wissen. Sie war heute direkt nach der Schule zu mir gekommen. Meine Eltern waren heute noch eine Weile bei irgendeinem Kurs der Paare näher zusammen bringen sollte, wobei ich den Sinn bei den Beiden nicht verstand.
Bis eben hatte Isa noch Hausaufgaben gemacht. Dabei schätzte ich Isa nicht als jemand ein, der gewissenhaft Schulaufgaben machte und im Unterricht den Streber heraushängen ließ. Trotzdem bemühte sie sich von Zeit zu Zeit immer wieder um ihre Noten halten zu können.
„Philosophie und Ethik." antwortete ich ihr schlicht. Sie würde sicher nichts von dem tatsächlichen Titel oder dessen Inhalt verstehen. „Genau deshalb bist du depressiv", murrte sie, „Philosophie ist nichts Festes, fast wie ein Hirngespinst."
Ich wollte etwas entgegnen, aber sie fuhr bereits fort: „Handle nur nach derjenigen Maxime bla bla bla. Ist ja alles schön und gut, aber du musst erst mal lernen überhaupt zu handeln."
Erstaunt sah ich sie an. Ich hatte nicht erwartet, dass sie sich mit Ethik auskannte. „Was guckst du so deppert?", fuhr sie mich an, „Ich geh ab und an mal heimlich in die Vorlesungen in der Uni." Sie zuckte ihre Schultern, als sei es etwas ganz normales als Schülerin bereits Vorlesungen zu besuchen. „Wie kommst du darein?" fragte ich sie fasziniert. „Der Trick dabei ist, so zu tun, als sei man wirklich ein Student." „Und das funktioniert?" hinterfragte ich erstaunt von dieser Einfachheit. „Bisher so um die dreizehn mal." antwortete sie schulterzuckend. Ihre grünen Augen taxierten mich und ich ahnte bereits, dass Isa eine Idee gekommen war. „Weißt du was? Vielleicht ist Philosophie doch was für dich, denn Mensch sein bedeutet, handeln zu müssen."
Ich konnte ihren Gedankensprüngen wie immer nicht so ganz folgen. Sie packte ihre Umhängetasche und warf dabei achtlos ihre Hefte hinein. „In einer halben Stunde ist eine Vorlesung, wenn wir Glück haben schaffen wir es noch rechtzeitig!"
„Aber..." brachte ich hervor und ließ das Wort verloren durch die Lust wabern, bis es bei Isa ankam, während ich verzweifelt versuchte, Gründe dagegen zu finden. „Na los! Schnapp' dir irgendeine seriöse Tasche und auf geht's!" wies sie mich verständnislos an, so als sei es das normalste auf der Welt in unserem Alter zur Uni zu gehen.
Als ich unten an die Tür kam, schoss meine Mutter sofort wie ein Wachhund hervor. Sie mussten wieder Nachhause gekommen sein, ohne dass ich es bemerkt hatte. Es war als wäre meine Mutter immer da, den ganzen Tag, vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Nie nahm sie sich frei von ihrem Job als Mutter. Zumindest nicht mehr. Früher hatte sie täglich gearbeitet, war in einem Yoga-Kurs angemeldet und war wöchentlich bei einer Teegesellschaft anwesend gewesen, aber seit dem Vorfall hatte sie all das an den Nagel gehängt. Angeblich nur vorübergehend.
„Wohin willst du?" fragte sie mit liebevoller Stimme, aber ich erkannte das Misstrauen in ihrer Stimme und den Beschützerinstinkt in ihren Augen.
„Zur Uni." antwortete ich wahrheitsgemäß und ein wenig überfordert, ich war es nicht gewohnt zu lügen. Isa war zum Glück schon draußen, sonst hätte sie mich sicher geohrfeigt für diese Aussage. Die Miene meiner Mutter hellte sich auf: „Achso!" Ich wusste genau was sie dachte: Wenn er sich um die Uni bemüht, heißt das, dass er sich um seine Zukunft bemüht!
Dabei bemühte ich mich nur um Isa. Warum auch sonst würde ich so etwas absurdes mitmachen? Ich hörte meine Mutter schon fröhlich meinen Arzt anrufen und anschließend noch gleich meinen Vater. Heute Abend würde es Lasagne geben und zum Nachttisch Pudding, meine Lieblingsspeisen. So war es immer. Sie nannte es Erziehung durch Lob, mein Arzt hatte es Babyschrittchen genannt und ich nannte es Zeitverschwendung.
Aber noch einmal sickerte das Misstrauen bei meiner Mutter durch: „Und wieso willst du da genau heute hin?"
Es war als hörte ich Isas Stimme, die mir die Worte ins Ohr flüsterte: „Tag der offen Tür. Wir haben das besprochen, als ich noch in der Schule war." Bei den letzten Worten war ich immer leiser geworden und für einen kurzen Moment hatte ich meine Worte selbst geglaubt, so dass die Panik in mir hochgekommen war. Natürlich hatte sie das bemerkt und einen Arm um mich gelegt, der mich zugleich zur Tür schob: „Na dann, viel Spaß!"

Das Gelände der Universität wimmelte nur so von Studenten. Panisch teilte ich dies Isa mit: „Na was hast du denn erwartet? Einige leben schließlich sogar auf dem Campus." lachte sie und lief selbstbewusst weiter. Es sah tatsächlich so aus, als würde sie hier hingehören und das nur durch die Selbstverständlichkeit ihres Denkens. Ich bewunderte sie so sehr dafür.
Ich hingegen war mir sicher angestarrt zu werden, weil ich auffiel. Ich besaß diese Selbstverständlichkeit durch das Leben zu gehen, als sei das alles ein für mich inszeniertes Stück, einfach nicht.
Isa öffnete eine Tür nach der anderen in die richtige Richtung, ohne dass daran Ziehen oder Drücken Schilder befestigt waren. Ich hätte garantiert selbst mit Hinweis gedrückt, statt gezogen.
Raum 131, in irgendeinem Plattenbau namens 3-A2. Sehr aufschlussreich, alleine hätte ich den Weg sicher niemals gefunden.
Ich sah keine anderen Studenten. „Okay," zog Isa das Wort gedehnt in die Länge, „Wir sind ungefähr sieben Minuten zu spät. Kein Ding, aber wir wollen nicht auffallen."
„Also gehen wir nicht rein?" fragte ich sie hoffnungsvoll. Dafür knuffte sie mich in den Arm: „Aber nein! Wie sähe das denn aus?" Sie rollte ein wenig mit den Augen und lächelte dann wieder breit: „Wir gehen rein und sagen ganz lässig, dass es uns leid tut."
Ohne meine Zweifel anzuhören, öffnete sie bereits die schwere Tür zur Vorlesung. „Sorry." rief sie und setzte sich wie selbstverständlich in eine der hintersten Reihen. Ich nuschelte eine Entschuldigung. Der Professor nickte nur kurz und machte sofort mit seiner Vorlesung weiter. Keine Fragen, kein Rauswurf. Es war unglaublich, zumindest für mich.
„Da ich davon ausgehe, dass sie alle die Texte gelesen habe", er hielt inne, „Nein, ich möchte heute mal eine philosophische Frage klären." Ich hörte verwirrtes Gemurmel im Saal. „Wir klärten letzte Woche warum Recht nicht gleich Gerechtigkeit ist. Mit solchen Einstiegsfragen, möchte ich sie zum selber denken, außerhalb des Unterrichts anregen." erklärte er. Es war ein junger Professor, wahrscheinlich irgendein hochbegabter, also nichts womit ich mithalten konnte. Isa hing dem Typ an den Lippen. „Was ist vorzuziehen ein Leben in Leiden oder Selbstmord?"
Isa hatte Recht, man lernte nie aus.

Wofür es sich zu leben lohntHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin