5 - etwas Lohnendes

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Einige wenige Studenten hatten die Frage selbstbewusst beantwortet. „Wenn wir vom Hedonismus und Eudämonismus ausgeht, wäre der Selbstmord wohl vorzuziehen." antwortete eine Studentin überlegend und man konnte ihr ansehen, dass sie sich viele Gedanken über eine passenden Antwort gemacht hatte. Der Professor erwiderte jedoch: „Ich möchte, dass Sie diese Frage beantworten und nicht irgendeine Ethik oder Philosophie."
Ich konnte förmlich spüren, wie die Studentin rot anlief.
Niemand gab mehr eine Antwort und die Stunde der Vorlesung verging wie im Flug. Am Ende hatte ich sogar fast vergessen, dass ich hier gar nicht hingehört hatte.
„Hey", als ich draußen war tippte mich ein Mädchen an, „Bist du Inas Bruder?" Sie trug bunte Locken und ebenso bunte Kleidung, die ihr irgendwie zu groß erschien. Verwirrt schüttelte ich mit dem Kopf und sah mich nach Isa um. „Achso, sorry." lächelte die fremde Studentin und verschwand. Ich war mir sicher mich verhört zu haben, sie hatte sicher Isa gesagt.
Wir wurden oft für Geschwister gehalten. Wir sahen uns ähnlich, irgendwie. Sie war eine weibliche und bessere Version von mir. Schönere Haare und mehr Selbstbewusstsein, wobei beides nicht wirklich schwer zu erreichen war.
„Wo bleibst du denn?" endlich sah ich Isa wieder, die bereits am Ausgang zur Treppe stand. Schnell folgte ich ihr. „Und?" sie stupste mich an. „Was und?" wollte ich wissen, während wir Stufe um Stufe herabstiegen. „Was ist vorzuziehen, meine ich, ein Leben in Leiden oder Selbstmord."
Stumm blickte ich sie an, ließ meine Gedanken arbeiten.
Eine schwere Frage. „I-Ich, ich weiß nicht." brachte ich schließlich wenig überzeugt hervor. Noch vor wenigen Wochen hätte ich ohne zu zögern, den Selbstmord gewählt, in jeder Hinsicht. Mittlerweile war ich mir aber tatsächlich nicht mehr sicher, vielleicht verging Leid wieder. Isa murmelte: „Doch du weißt es." Es war so leise, dass ich mir noch nicht einmal sicher war, dass sie diese Worte wirklich ausgesprochen hatte. Sie setzte wieder ihr Lächeln auf: „Ich finde, dass ein Leben in Leiden besser zu wählen ist. Jedes Leid geht vorüber. Der Tod ist nicht episodisch, sondern endgültig."
Es war schwer an Isas Seite nachzudenken, denn kaum hatte sie einen Gedanken ausgesprochen, so folgte der nächste sogleich aus ihrem Mund. Es war als würde sie nie nachdenken. Manchmal stellte ich mir vor, wie Isa Nachts wachlag und sich Dialoge und Monologe zurecht legte um nie überlegen zu müssen, sodass nie eine unangenehme Stille oder eine ungewollte, nachdenkliche Pause entstand. „Aber du musst doch gestehen, es war cool einfach so in eine Vorlesung zu gehen!" kicherte Isa und hakte sich bei mir unter, wobei mir heiß wurde. Es war selten, dass wir direkten Körperkontakt hatten, der nicht unbeabsichtigt war. „Irgendwie schon." gab ich zu. Untertreibung des Jahrhunderts, es war fantastisch gewesen. „Wow, deine Euphorie kennt wie immer keine Grenzen." kommentierte Isa, aber grinste dabei, was mir zeigte, dass sie mich sehr wohl verstanden hatte.
„Ich kenne noch eine gute Eisdiele in der Nähe." wechselte Isa das Thema und zog mich vom Campusgelände.
Gute drei Minuten später standen wir vor einer nicht gerade billig aussehenden Eisdiele. Es war eines dieser Cafés, in denen man mit Sicherheit geraspeltes Gold über sein Eis gestreut bekam. „Das ist zu teuer für Eis." murmelte ich Isa zu, als sie die Tür aufschwang und ich die Preise erkannte. Ein helles Glöckchen erklang. Wie immer ignorierte Isa meine Bedenken und setzte sich an einen der Tische. Nur wenige Augenblicke später erschien auch schon der Kellner und nahm unsere Bestellungen auf. Ich wählte bescheiden ein normales Schokoladeneis, ohne Sahne und geraspeltes Gold. Isa hingegen bestellte einen dieser sündhaft teuren und schön dekorierten Eisbecher, mit allem Drum und Dran. „Isa", ermahnte ich sie mit gesenkter Stimme als der Kellner wieder hinter die Theke verschwand, „Wie willst du das bezahlen?"  „Wer sagt, denn das wir bezahlen?", erwiderte Isa gelassen, „Lauf einfach wenn ich dir Bescheid sage."
„Was?" meine Stimme wurde unbeabsichtigt lauter, sodass sich ein altes Ehepaar zu uns umdrehte und mit den Köpfen schüttelte. „Das willst du doch nicht wirklich machen, oder?"
„Nein, ich glaube ich probe einen Aufstand, dass mein Eis zu kalt ist oder so." erwiderte sie gelassen. Der Kellner kam und brachte unser bestelltes Eis. „Isa konnte Leute gut um Kopf und Kragen reden, nur wollte ich es nicht darauf ankommen lassen. „Bitte tu dem Armen das nicht an!" flehte ich. „Meinetwegen." schulterzuckend widmete sie sich wieder dem Eisbecher. Ich beneidete sie in diesem Moment nicht nur für ihre innere Einstellung, sondern auch für ihr Eis. Denn Schokolade war ziemlich langweilig, jeder kannte es und jeder hatte es irgendwann mal heiß und innig geliebt.
„Wie möchten Sie denn bezahlen?" fragte der Kellner kurz darauf, als er bemerkte, dass ich fertig war und Isa nur noch lustlos am Löffel knabberte. „Setzen Sie es auf die Rechnung meines Vaters, Berkley." „Sehr wohl." erwiderte der Mann im Sakko und ließ uns wieder alleine.
„Berkley?" fragte ich verwirrt. „Bis sie bemerkt haben, dass keine Berkley Rechnung vorliegt, sind wir schon verschwunden." grinste Isa schelmisch.
Entsetzt erwiderte ich: „Das kannst du nicht machen!" „Natürlich kann ich." schulterzuckend löffelte sie ihr Eis. Ungläubig starrte ich sie an. Plötzlich stand Isa auf und zog mich hoch. Sie rannte förmlich aus der Eisdiele und mir blieb nichts anderes übrig, als hinterher zu trampeln. Lachend kamen wir an der nächsten Kreuzung zum stehen. „Ich hätte zu gern sein Gesicht gesehen!" lachte Isa und hielt sich japsend die Seite. „Ich auch!" gestand ich und ließ mich von ihrer Art mitreißen.
Als ich endlich Zuhause ankam und die Türe aufschloss, wollte meine Mutter natürlich sofort alles wissen. Mit einem breiten Grinsen antwortete ich ihr: „Ich glaube, es lohnt sich." Und auch wenn Isa mich in diesem Moment nicht hören konnte, da sie selbst schon Zuhause war, fühlte es sich richtig an.
Isa hatte Recht, es lohnte sich zu leben.

Wofür es sich zu leben lohntWhere stories live. Discover now