5. Wie jemand neue Eindrücke gewinnt

241 24 11
                                    

Nervös lief ich die letzten Meter zum vereinbarten Treffpunkt. Ich war etwas zu früh, mir war es lieber, auf Amelia warten zu müssen als sie am Ende zu verpassen.

Immer wieder schweifte mein Blick zu meiner Armbanduhr. Eigentlich mochte ich die Dinger nicht allzu sehr, aber es war praktischer, als immer erst mein Handy heraus zu kramen und dort nach der Zeit zu schauen.

Als Amelia auch fünf Minuten nach Eins noch nicht da war, stiegen langsam Zweifel in mir auf. Vielleicht würde sie gar nicht kommen.

Der Zeiger meiner Uhr kroch quälend langsam, aber doch beständig voran und irgendwann wurden aus den fünf Minuten Zehn und aus den Zehn Fünfzehn.

Erst zwanzig nach Eins konnte ich eine mir bekannte Gestalt ausmachen. Eine junge Frau mit braunem Haaren und blasser Haut kam auf mich zugelaufen und blieb schließlich atemlos vor mir stehen.

Die Hände auf den Knien aufgestützt sah sie zu mir auf und lächelte mich an. „Hey."

„Selber Hey", grinste ich. Ohne es zu wollen verrauchte meine schlechte Laune und machte einem Gefühl des Glücks Platz.

„Tut mir leid, aber meine Mum hat ewig gebraucht. Wartest du schon lange?", entschuldigte sie sich.

Mir war zwar nicht ganz klar, warum ihre Mutter für ihr Zuspätkommen verantwortlich war, aber ich konnte ihr auch nicht böse sein.

„Kein Problem. Nein, nicht wirklich." Lächelnd sah ich Amelia dabei zu, wie sie weiter nach Atem rang. Die letzten 25 Minuten waren mir zwar unendlich lang erschienen, aber das musste sie ja nicht wissen.

„Das ist gut." Langsam richtete sie sich wieder auf und strich sich das Haar von der Schulter zurück. „Wollen wir los?"

„Sicher, wenn du mir sagst wohin es geht?" Angestrengt versuchte ich einen möglichst coolen Eindruck zu erwecken, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass der Zug für mich schon längst abgefahren war.

„Wir fahren nach Southbank, mehr verrate ich nicht." Ohne zu zögern griff sie nach meinem Arm und zog mich mit sich in Richtung U-Bahn. Abrupt blieb ich stehen und starrte sie entsetzt an.
„Du willst mit mir U-Bahn fahren?"

„Ja klar, wieso nicht?" Verwirrung zeichnete sich auf ihrem Gesicht aus und sie ließ meinen Arm los. Sofort vermisste ich die Wärme ihrer Hand, die auch durch den Stoff meiner Jacke gedrungen war.

„Weil ich nicht gerade unbekannt bin und eigentlich keine große Lust auf einen riesigen Menschenauflauf habe", schnaubte ich und sah mich erneut an diesem Tag um.

„Oh Wow, du bist ja wirklich ziemlich von dir eingenommen." Spöttisch zog Amelia eine Augenbraue hoch und ließ mich schlucken. „Wer sagt denn, dass sich überhaupt jemand für dich interessiert Harry?"

Schweigend presste ich meine Lippen aufeinander. Vielleicht verhielt ich mich wirklich lächerlich und war übervorsichtig, aber ich hatte schon Situationen erlebt, die ich einfach nicht nochmal durchmachen wollte. Vollkommen alleine zwischen hunderten von Menschen eingekesselt zu sein, die alle an einem herumzerrten, ihnen ausgeliefert zu sein, das war kein schönes Gefühl.

„Was schlägst du denn stattdessen vor? Ich hab wenig Lust den ganzen Weg zu Fuß zu laufen", seufzte sie leise auf.

„Wir könnten mit dem Auto fahren, mein Wagen steht nicht weit von hier." Überrascht, dass sie nur ergeben nickte und sich nicht weiter beschwerte machte ich mich mit ihr auf den Weg.

Im Auto saß Amelia schweigend neben mir und sah aus dem Fenster. Wie nicht anders zu erwarten standen wir natürlich mal wieder im Stau, der Verkehr war heute noch dichter als sonst schon. Mittlerweile standen wir und es gab keine Chance, dass wir allzu bald wieder weiter fahren konnten.

LebenslichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt