Kapitel 7

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↠ Miracle - Martin Jensen

An dem Tag, an dem Vater starb, war ich elf. Es war Sommer und die Sonne schien kräftig auf die Erde. Adira und ich spielten draußen, natürlich in ihrem Garten, denn dieser war viel größer als unserer. Max saß auf einer Bank und hatte seine Nase in ein Buch gesteckt. Seine Leidenschaft galt schon immer den Büchern. Trotzdem konnten wir ab und zu spüren wie sein neidischer Blick auf unseren Schultern ruhte. Ein Teil von ihm wollte mit uns spielen, doch traute sich nicht zu fragen.

Es war ein wirklich wunderschöner Tag. Zumindest bis zu dem Moment, in dem Adiras Mutter mich nach Hause schickte und ich Mum erblickte. Ihr Blick war leer, ihr Gesicht aschfahl. Selbst in diesem Zustand sah sie noch anmutig aus. Mit stotternder Stimme und mühsam unterdrückten Tränen in den Augen brachte sie dann aber die Worte heraus, die mein Leben für immer veränderten. Die mich für immer zerbrachen.

An diesem Tag verlor ich nicht nur meinen Vater, sondern auch meinen besten Freund, meinen strengsten Kritiker und meinen größten Fan. Ich verlor den Menschen, der auf jede meiner Fragen eine Antwort wusste. Den Menschen, der jedes Mal bereit war, mich aus den tiefen, schwarzen Löchern zu ziehen, in die ich gelegentlich fiel.

Ich wollte am liebsten für den Rest meines Lebens nur noch in meinem Bett liegen und weinen. Und um ehrlich zu sein tat ich dies auch die ersten Tage. Gemeinsam mit Mum versanken wir ein einem endlos langen Meer aus Tränen und Taschentüchern und noch mehr Tränen. Vermutlich hätte es ewig so weitergehen können, wenn ich nicht ein altes Foto gefunden hätte. Es war kein wirklich besonderes Foto, das lediglich Dad darstellte, wie er mich auf seinen Schultern trug und über beide Ohren strahlte. Trotzdem war es das schönste Bild, das von Dad und mir existierte. Mein Lieblingsbild.

Mit noch mehr Tränen in den Augen als zuvor wollte ich das Foto wegpacken, doch da stach mir die mir so vertraute, elegant geschwungene Schrift meines Vaters auf der Rückseite ins Auge.

Leben jeden Tag so als ob du dein ganzes Leben lang nur für diesen einen Tag gelebt hast.

Ein Stechen in meiner Brust erinnerte mich schmerzhaft daran, wie Dad diesen Satz jedes Mal sagte, wenn es mir schlecht ging. Für ihn war es sogar mehr als ein bloßer Satz. Es war sein Lebensmotto. Und er hatte immer wieder versucht es auch zu meinem zu machen.

Das erste Mal seit seinem Tod dachte ich wieder an Dad. Nicht darüber, wie sehr er mir fehlte und wie sehr mich der Gedanke ohne ihn weiterzuleben schmerzte. Nein, ich dachte an seine Art, sein warmherziges Lachen und wie unendliche Liebe in seinen Augen schimmerte. Ich dachte an die wunderschönen Momente, die ich mit ihm verbrachte hatte und an die Momente, in denen ich grundlos wahnsinnig wütend auf ihn gewesen war.

Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr ganz so traurig. Vielmehr fühlte ich mich dankbar dafür, dass ich überhaupt die Möglichkeit hatte all dies mit ihm zu erleben. Dankbar dafür, dass er mein Vater war.

Und ich begann zu hoffen, dass er mir von oben aus dem Himmel aus zusah und stolz war. Ich wollte ihn stolz machen. Ich wollte nach seinem Lebensmotto leben.

Zu Hause, in Kent, hatten die Umstände, die manchmal nahezu unerträglich waren, es mir nicht selten schwer gemacht diesem Vorsatz zu folgen. Doch in diesem prächtigen, sogar märchenhaften Schloss überkam mich das Gefühl, dass man jede Sekunde nur genießen konnte.

Am liebsten hätte ich sofort jeden Winkel erkundet, von der Bücherei bis hin zum Kinosaal, von der Küche bis zur königlichen Garderobe. Aber dafür blieb leider keine Zeit. Nachdem wir hastig von einigen Bediensteten begrüßt wurden, lotste man uns wortlos zu einem großen Raum, in dem sich gefühlt tausende Menschen befanden. Überall waren Spiegel aufgestellt, vor denen bildhübsche Mädchen saßen und makellos geschminkt wurden. Durch den gesamten Raum halten Stimmen, laute und leise, zarte und aggressive. Es war ein einziges Chaos.

"Da sind sie ja endlich!" eine übermotivierte Frau kam mit den Händen klatschend auf uns zugelaufen. "Wir haben schon auf euch gewartet. Mein Name ist Aurora. Ihr kennt mich sicher noch von dem Telefonat, das ich mit euch allen geführt habe. Naja, wie dem auch sei. Erst brauchen wir ein aussagekräftiges "Vorher" Foto von euch hübschen Mädels. Ach, und bitte ignoriert die ganzen Kameras nicht." Die Worte sprudelten nur so aus Auroras Mund und ich hatte Schwierigkeiten damit, ihr zu folgen.

Etwas überwältigt von der Situation folgten wir Aurora zu einem Stuhl, der vor einem künstlichen Hintergrund stand. Chanel meldete sich sofort freiwillig als Erste ein Foto zu machen. Mit einer graziösen Bewegung setzte sie sich, richtete ihr Haar und strahlte dann in die Kamera. Alles an ihr war so perfekt, so fehlerfrei wie nur möglich war - zumindest der äußere Teil.

Nachdem wir alle unsere Fotos gemacht hatten, rief Aurora weitere Anweisungen durch die Gegend. Ich hatte das Gefühl sie würde einfach nur wild rumschreien, denn sie schien niemanden direkt anzusprechen. "Bringt Lady Chanel zu Stuhl eins. Lady Olivia zu Stuhl fünf. Lady Mariella Stuhl sieben und Lady Greer - ach Stuhl drei ist gerade frei geworden! Lady Greer auf Stuhl drei, bitte!"

Keine Sekunde später tauchte ein junger, braunhaariger Mann vor mir auf.

"Hey." grüßte er und lächelte mich dabei freundlich an. Er war der erste Mensch, der mich seit meiner Ankunft in Angeles so ehrlich angelächelt hatte. "Mein Name ist Jax. Würdest du mir bitte folgen?"

"Klar." ich nickte und folgte ihm zu einem Stuhl auf den ich mich anschließend setzen durfte. "Ich bin übrigens..."

"...Mariella." fiel er mir lachend ins Wort. "Ich weiß."

"Oh..."

"Also, Mariella. Was ist mit deinem Image?" mit diesen Worten drehte er den Stuhl so, dass ich ihm direkt in seine grünen Augen blicken konnte.

"Mein was?" voller Verwirrung legte ich meinen Kopf zur Seite.

"Dein Image - wer willst du sein? Die Wilde? Die Ruhige? Die Adrette?" erläuterte er.

"Hm." die Frage überforderte mich sichtlich. Einerseits wollte ich mich nicht verändern - schließlich wollte ich immer noch der gleiche Mensch sein, wenn ich Mum wieder in die Arme fiel und in ihr gesundes Gesicht blicken konnte. Andererseits war die Vorstellung verlockend, etwas frischen Wind in mein Leben und in mich selbst zu bringen.

"Ich - ich möchte charmant sein. Aber auch natürlich. Verstehst du?" antwortete ich etwas zögerlich.

"Selbstverständlich. Da lässt sich was machen." er schaute mich noch einen Moment an, dann fragte er: "Wieso bist du hier?"

Eigentlich hätte ich auf diese Frage nicht antworten sollen - was ging ihn das auch schon an? - doch irgendetwas an seinem Blick verriet mir, dass ich ihm trauen konnte und dass es ihn tatsächlich interessierte.

"Ich weiß es nicht." erwiderte ich also wahrheitsgemäß. Mittlerweile war ich mir nicht mehr sicher was ich hier wollte und warum ich hier war. Mum hatte das Geld bekommen, das sie für ihre Behandlung brauchte und eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust dieses ganze Prinzessinnen Ding. Eigentlich.

Jax nickte verständnisvoll und wollte meinen Stuhl gerade wieder so rum drehen, dass ich in den Spiegel blicken konnte, doch ich schüttelte meinen Kopf.

"Meine Mutter ist todkrank und wir hatten kaum Geld. Nicht genug um sie zu retten. Deswegen habe ich mich angemeldet. Jetzt - weiß ich nicht so recht, was ich hier zu suchen habe. Aber es macht Spaß." ich biss mir verlegen auf die Lippe. War es richtig von mir gewesen ihm das zu erzählen?

"Ich weiß ganz genau was wir mit dir machen." jetzt zierte wieder ein offenes, fröhliches Lächeln seine Lippen. Voller Elan drehte er den Stuhl um und machte sich dann, gemeinsam mit einigen anderen, an die Arbeit.


Selection: Die Hoffnungحيث تعيش القصص. اكتشف الآن