Kapitel 1

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Jeder Morgen war eine Qual für mich, aber dieser Morgen brachte mich an meine Grenzen.

Mums Hustenanfall hielt mich die ganze vorherige Nacht wach, sodass ich kein Auge zugetan hatte - nicht einmal für eine Sekunde. Ich sah, dass sie sich dafür schlecht fühlte.

Mehrmals hatte ich ihr versichert, dass es nicht ihre Schuld war - was konnte sie schließlich dafür? - dennoch spiegelten ihre Augen ein tiefes Schuldgefühl. Ich konnte tun, was auch immer ich wollte, sie würde sich weiterhin so fühlen.

Mein Herz begann zu schmerzen.

Meine Mutter so zu sehen - krank und hoffnungslos - war etwas, dass mich zwar einerseits entzwei riss, doch andererseits auch motivierte jeden Tag weiter zu machen. Sie war die einzige Person, die mir übrig geblieben war. Sie war die einzige Person, die ich jetzt noch liebte. Und sie brauchte mich. Sie war von mir abhängig.

Ich musste uns durch diese schwere Zeit bringen.

Ein plötzliches Klingeln riss mich aus meinen Gedanken.

Noch bevor ich überhaupt von meinem Stuhl aufstehen und die Tür öffnen konnte, wusste ich, dass es niemand anderes als Kael war. Der Postbote.

"Hey." grüßte ich ihn mit einem schwachen Lächeln.

"Hallo." Kael erwiderte mein Lächeln, aber seines war viel heller. Ich wunderte, wie er das schaffte. Er war eine Sechs - zwei Kasten unter mir. Wie war es also möglich, dass ihm das Leben so viel einfacher fiel als mir?

Er reichte mir zwei Umschläge. Wir bekamen nie mehr und es war auch nicht so, dass wir uns über Briefe freuten. Normalerweise enthielten sie nur Rechnungen. Rechnungen, die wir nicht bezahlen konnten.

Kael verschwand mit einem einfachen "Ciao." und ich schloss die Tür.

"Wie viele sind's heute?" hörte ich Mums schwache Stimme von der Küche.

"Zwei." ich seufzte.

Ich war versucht diese verdammten Briefe zu zerreißen. Versucht sie in den Mülleimer zu werfen oder - besser noch - sie zu verbrennen. Erst in diesem Moment realisierte ich, dass einer der Umschläge anders war als gewohnt.

Er fühlte sich glatter an. Und er war von einem klareren, helleren weiß als der andere Umschlag.

Ich drehte den Brief um und schnappte nach Luft, als ich meinen eigenen Namen las, geformt aus schön geschwungenen, silber glitzernden Lettern.

Mein Körper begann zu zittern. Niemals zuvor hatte ich einen eignen Brief bekommen, einen Brief, der an mich adressiert war. Was konnte das also bedeuten? Was konnte da drin stehen?

"Ella? Ist alles in Ordnung?" ich hatte meine Mutter komplett vergessen, die immer noch geduldig darauf wartete, dass ich zurück kam. Rasch ging ich zurück in die Küche und setzte mich wieder hin. Ohne auch ein Wort zu verlieren, reichte ich ihr den einen Umschlag, der auch an sie adressiert war.

"Natürlich." murmelte sie als sie ihn sah. "Ich wünschte sie würden aufhören diese Dingen zu schicken."

Ich verzweifelten Augen fielen auf den Umschlag, den ich immer noch in meinen zittrigen Händen hielt. "Was ist das?"

Ich zuckte mit den Schultern. "Meine Name steht drauf."

"Vielleicht ein Liebesbrief." ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ich lachte leicht auf, halbherzig.

Wie ihre Augen so ungeduldig auf mir ruhten, konnte ich das Öffnen des Briefes nicht mehr länger hinauszögern. Ich fühlte eine Welle von Angst über meinen Körper schwappen. Was, wenn die Regierung beschlossen hatte, nun auch Geld von mir zu verlangen? Schließlich war ich jetzt auch volljährig.

Langsam begann ich den Umschlag zu öffnen und den Brief darin zu entfalten.

Ich atmete tief ein und fing an zu lesen.

"An das Haus der Ayres."

Mum schaute mich an. Die Schuld in ihren Augen verblasste und wurde nun zu nervöser Aufregung.

"Eine kürzliche Volkszählung hat gezeigt, dass in ihrem Haus eine unverheiratete Frau im Alter zwischen sechzehn und zwanzig Jahren wohnt. Wir würden Sie gerne auf eine anstehende Möglichkeit hinweisen, um die große Nation Illéa zu ehren. Unser geliebter Prinz, Aramis Schreave, erreichte letzten Monat seine Volljährigkeit. Während er den Schritt in diesen neuen Abschnitt seines Lebens wagt, hofft er darauf diesen mit einer Partnerin zu beginnen und eine wahre Tochter Illéas zu heiraten."

"Die Selection." Mum schnappte nach Luft.

Ich hatte keine Ahnung worüber sie sprach, also hob ich meinen Kopf wieder und blickte sie verwirrt an.

"Lies weiter." forderte sie.

"Sollte Ihre berechtigte Tochter, Schwester oder Ihr Schützling daran interessiert sein, möglicherweise Prinz Aramis' Braut und somit die verehrte Prinzessin von Illéa zu werden, bitten wir Sie das beiliegende Formular auszufüllen und beim örtlichen Provinz Service Büro einzureichen. Eine Frau aus jeder Provinz wird dann zufällig ausgelost, um den Prinzen persönlich zu treffen."
"Teilnehmerinnen werden für die Dauer ihres Aufenthalts im entzückenden Palast von Illéa hausen. Die Familien jeder Teilnehmerin werden für ihre Dienst für die königliche Familie großzügig entschädigt."

Ich hörte auf zu lesen. Mir war egal, was folgen würde, es war nicht von Bedeutung.

Alles, was jetzt wichtig war, war dass diese Sache Mum das Leben erleichtern könnte. Wir konnten großzügig entschädigt werden.

Ich checkte den Umschlag nach dem besagten zweiten Stück Papier.

"Du hast den Brief nicht zu Ende gelesen." erwähnt Mum. Ich nickte zur Antwort und sie verstand, dass ich nicht die Intention hatte, dies noch zu tun.

Mit einer flinken Bewegung griff sie nach dem Brief und las ihn für sich selbst. Ich konnte kein Wort hören.

Stattdessen fokussierte ich mich auf die Bewerbung.

Die Fragen waren einfach zu beantworten. Eigentlich wollten sie gar nicht so viel wissen. Binnen weniger Minuten war ich komplett fertig.

"Du musst das nicht machen, das weißt du, oder?" Mum klang etwas besorgt. Beinahe so, als würde sie mich warnen.

"Ich weiß, aber es würde uns unglaublich helfen."

"Willst du das denn?" fragte sie mich direkt.

Ich wusste auf diese Frage keine Antwort. Um genau zu sein, hatte ich mich darüber noch überhaupt keine Gedanken gemacht. Alles was ich wollte, war sicherzustellen, dass es uns gut ging, dass wir gesund und sicher waren. Und das war meine Chance.

Aber jetzt, wo Mum mich fragte, war ich gezwungen mich mit dieser Frage genauer auseinanderzusetzen.

Wollte ich das tun? Wollte ich - wie jedes andere Mädchen - den Prinzen von Illéa zum Ehemann?

Ich schüttelte den Gedanken ab. Es war ja nicht so, dass ich überhaupt eine Chance hatte - also warum sollte ich mich unnötig mit diesen Gedanken beschäftigen?

"Ja." sagte ich schnell, um Mum zu beruhigen, während ich die Anmeldung nahm und aufstand. Ein rascher Blick auf die Uhr hatte mir verraten, dass es Zeit war zur Arbeit zu gehen.

"Ich liebe dich." vorsichtig küsste ich die Stirn meiner Mutter und bevor sie irgendwas erwidern konnte, war ich schon aus der Tür.

Ich hatte beschlossen noch vor der Arbeit zum Provinz Service Büro zu gehen und meine Anmeldung einzureichen. Es würde mich sicherlich nicht so viel Zeit kosten.

Selection: Die HoffnungWhere stories live. Discover now