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Wir sind vor der Dämmerung aufgestanden und weitergegangen. Es war noch nicht ganz hell, als wir einem Fremden begegneten.
Zuerst hörte ich ein Rascheln und dann nahm langsam eine näher kommende Gestalt wahr. Einen Moment lang hatte ich Angst, dass es ein Besetzer wäre, doch es war nur ein Mensch.
Wobei ‚nur' sehr harmlos klingt.
Ich gab meinem Vater ein Signal und schob Aurora hinter mich.
Mein Vater griff nach seiner Waffe. „Wer sind Sie und was wollen Sie?", fragte er ruhig, aber mit fester Stimme.
Man darf niemals Angst zeigen.
„Bitte. Ich will ihnen nichts tun. Ich suche nur nach Menschen. Seit Wochen habe ich keinen einzigen Menschen mehr getroffen", antwortete die fremde Stimme aus der Dunkelheit.
Klingt glaubwürdig, da wir alle sehr versteckt leben, dennoch hatte ich ein komisches Gefühl bei ihm. Ich suchte die Umgebung ab, ob ich noch jemanden entdeckte.
Er war allein. Doch in diesem Moment war uns das noch nicht so klar gewesen.
Der Fremde machte langsam ein paar Schritte auf uns zu und hob dabei vorsichtig die Arme, um uns zu zeigen, dass wir nichts zu befürchten hatten. Aber so naiv waren wir nicht.
Ich griff ebenfalls nach der Waffe in meiner Tasche.
Man lernt viel, wenn man um sein Überleben kämpft. Zum Beispiel, dass Menschen Rudeltiere sind und es einen Grund geben muss, dass er allein hier draußen ist.
„Bleiben Sie stehen!", forderte mein Vater den Fremden auf.
Es war noch recht dunkel, doch ich konnte inzwischen sein Gesicht erkennen. Er sah sehr ungepflegt aus. Unter seinem Bart verborg er das Gesicht eines Anfang 30-jährigen. Er war etwa so groß wie mein Vater und ich, doch er war schmächtiger als wir. Ich hätte ihn mit einer schnellen Rechten zu Boden gebracht.
Doch das übernahm schon mein Vater, als der Fremde plötzlich auf ihn zu sprang und ihm die Waffe aus der Hand schlug. Mein Vater reagierte sofort und haute ihm mit aller Kraft eine rein. Ich hörte wie die Nase des Fremden brach. Aurora klammerte sich an mich und ich mich an meine Waffe. Ich wusste, dass ich in diesem Moment nicht schießen durfte. Erstens könnte ich den falschen treffen, zweitens brauchten wir diese Kugel vielleicht noch und drittens wäre es ein viel zu lautes Geräusch. Vielleicht waren noch andere von diesem Mann in unserer Nähe und so würde ich sie ja praktisch dazu einladen uns umzubringen.
Der Fremde am Boden wollte grade wieder aufstehen, als mein Vater sich auf ihn warf und auf ihn einschlug.
Ich hörte meinen Vater plötzlich schreien. Ich wusste nicht wieso., aber ich wusste, dass er meine Hilfe brauchte. Ich drehte mich zu Aurora um, „Du bewegst dich nicht einen Zentimeter, verstanden?" Sie nickte heftig und ließ mich los. Ich lief zu den zwei Männern. Inzwischen lag mein Vater auf dem Waldboden. Der Fremde kniete über ihm und versucht meinem Vater ein Messer in seine Brust zu stechen, doch mein Vater umklammerte mit aller Kraft, die er noch hatte, das Handgelenk des Fremden und drückte es von sich weg. Ich ließ meine Waffe einfach auf den Boden fallen und zückte mein Messer. Genau für solche Momente habe ich es immer griffbereit.
Ich packte den Fremden an seinen Haaren, zog ruckartig seinen Kopf nach hinten und schnitt ihm die Kehle durch, bevor er auch nur realisieren konnte, was mit ihm geschieht.
Ich sah zu wie er keuchte und nach Luft schnappte, während er zu Boden ging. Ich fühlte mich nicht schuldig, einen Menschen getötet zu haben. Das gehört eben auch dazu, wenn man überleben will.
Er oder du?
Mein Vater lag noch am Boden. Es war inzwischen etwas heller geworden und ich konnte seine Wunde sehen. Der Fremde hatte meinem Vater sein Messer direkt durch die Schulter gebohrt. Das war Glück und Pech in einem.
Pech, weil er ihn überhaupt getroffen und Glück, weil er somit keine lebenswichtigen Organe beschädigt hatte.
Ich desinfizierte die Wunde auf beiden Seiten seiner Schulter mit Alkohol, bevor ich sie verband. Mein Vater biss tapfer die Zähne zusammen. Er ist halt ein ganzer Kerl. Aber sowas muss man in dieser Welt auch sein. Wir wären alle schon längst tot, würden wir Schwäche zeigen. So wie der tote Idiot neben uns. Allein sein, ist manchmal eben auch eine Schwachstelle.

Rehaugen (Band 1)Where stories live. Discover now