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Der 12. Juni begann wie die meisten Tage während der Jagdsaison. Wir hatten die Nacht wieder auf einem Baum verbracht. Seine Äste waren großgenug, dass Tami neben mir in meinen Armen schlafen konnte, während mein Vater seine Wache hielt.
Er war nicht sehr überrascht wegen Tami und mir und meinte, er hätte das mit uns kommen sehen. Was auch immer das bedeuten sollte...?
Aurora war im Gegensatz zu ihm sehr überrascht und ich glaube, auch ganz kurz ein bisschen eifersüchtig. Tami bedrohte ihren Ruf als meine "Nummer 1". Aber das ist kein Vergleich. Nicht einmal Tami hätte dieses starke Geschwisterband, das zwischen uns Bestand, trennen können.
Aber ich wette, dich interessiert das alles grade gar nicht. Du willst lieber wissen, wie es zu meiner Gefangennahme kam.
Nun, nach dem wir aufgestanden waren, wollten wir die Fallen überprüfen, die wir am Abend zuvor aufgestellt hatten, in der Hoffnung ein Hase könnte sich mal wieder hinein verirren.
Mein Vater überprüfte eine, Tami eine weitere und ich die letzte. Aurora kam mir hinterhergelaufen, weil sie einige Fragen hatte.
„Also sind Tami und du jetzt ein richtiges Paar?"
„Ich glaube schon."
„Du glaubst?", fragte sie skeptisch.
Ich musste grinsen. Ihre Eifersucht war schon irgendwie niedlich.
„Ich weiß es", verbesserte ich mich und Aurora nickte stumm.
„Ist das alles, was du mich fragen wolltest?"
Sie zögerte. „Hast du mich noch lieb, Adam?"
Was für eine blöde Frage.
Ich stellte mich vor sie.
„Ich werde dich immer liebhaben, Rehlein. Tami ist zwar meine Freundin, aber du bist und bleibst meine kleine Schwester. Ganz egal was passiert. Du bleibst mein Mädchen Nummer 1."
„Aber ist Tami jetzt nicht dein Mädchen Nummer 1?"
„Nein, Tami ist meine Frau Nummer 1."
„Also muss ich meinen Rang in deinem Herzen jetzt mit ihr Teilen?", fragte sie entsetzt und ich musste lachen.
„Ich habe dich immer noch unbeschreiblich lieb, mein Rehlein." Ich nahm sie in die Arme.
„Ich habe dich auch lieb, Adam."
Als wir da so standen, nahm ich plötzlich eine Bewegung neben mir wahr. Aus dem Nichts schoss ein riesiges Netz auf uns zu. Ich schubste Aurora zu Boden und so fing es nur mich ein. Es wickelte sich um mich und zog mir die Füße unter meinem Körper weg. Ich fiel direkt neben Aurora, die mich mit ihren riesigen angsterfüllten Rehaugen ansah.
„Lauf weg, Aurora!", brüllte ich sie an. „Verschwinde von hier! Lauf zu Papa und Tami! Los!"
Zitternd stand sie auf und rannte los. Sie war schnell zwischen den Bäumen verschwunden. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.
Ich weiß noch, wie ich versuchte mein Klappmesser aus meine Tasche zu zerren, um das Netz zu zerschneiden, doch es ging einfach nicht kaputt.
Ich sah meine Mutter vor meinem inneren Auge. Sollte es mit mir genau so enden wie mit mir? Ich konnte Aurora doch nicht im Stich lassen. Und Tami und meinen Vater...
Das Netz wurde langsam eingezogen und ich sah mich schon auf einem Tisch liegen, wie sie meine Glieder von meinem Körper trennten und mir meine Organe entnahmen.
Ich wusste, ich würde sterben. Doch in diesem Moment hoffte ich nur, dass Aurora es rechtzeitig zu den anderen schaffte und sie sich retten konnten.
Scheiß auf mich! Ich lag in diesem Netz. Für mich war eh schon alles zu spät. Aber sie sollten den Sommer überleben. Irgendwann, da war ich mir sicher, hätten sie die Trauer über meinen Verlust überwunden. Wir lebten in harten Zeiten. Da war nicht viel Platz für Trauer.
Ich griff nach meiner Waffe, um es selber zu beenden. Doch das Netz hielt plötzlich an und ein Besetzer richtete eine weiße Waffe auf mich.
Das war das erste Mal, dass ich einem Besetzer sah.
Er sah aus wie wir. Nur völlig anders.
Fast wie ein weißer Riese.
Er hatte zwei Arme und zwei Beine und einen Kopf wie wir Menschen, doch seine Haut war so weiß wie Schnee und blendete mich in der Sonne. Er trug einen ebenso weißen Kampfanzug. Hatten sie etwa Angst, wir könnten uns gegen sie wehren? Seine Augen waren tiefschwarz und hatten keine Pupillen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er ... oder es mich ansah oder irgendwo anders hin. Doch es tat schon fast weh dieses Wesen anzusehen.
Seine Waffe zielte auf mein Herz und ich blickte dem Besetzer furchtlos in seine Augen.
Ich werde nicht mit Angst sterben!
Und dann schoss er.

Rehaugen (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt