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„Und jetzt?", fragt Tami und sieht sich ängstlich um.
„Laut der Karte müssen wir über den Zaun da", antwortet Toni und deutet nach rechts auf einen Stacheldrahtzaun.
„Das soll wohl ein Witz sein?!", ruft Tami entsetzt und ich gebe ihr mit einem wütenden „Sssch!" zu verstehen, dass sie nicht so laut sein soll. Immerhin sind wir hier umgeben vom Feind.
„Tut mir leid. Aber Damik sagte, die Lagerhalle sei gleich neben an. Ist sie das hier nicht?", fragt sie etwas leiser und deutet dabei auf das Gebäude neben uns.
„Tami, ich vermute dieses Schlachthaus ist nicht eindimensional. Die Lagerhalle könnte genauso gut auf der anderen Seite stehen", antwortet Toni.
Sie sieht ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an und er verstummt sofort. Wahnsinn, was das für eine Wirkung hat, wenn sie das immer macht.
„Jeden falls steht hier, dass die Lagerhalle nördlich des Schlachthauses ist und wir westlich. Wir müssen nur über den Zaun und um die Ecke rum."
„Das klingt so einfach, wie du das sagst. Aber auf diesem kurzen Weg könnten wir von allen möglichen Besetzern gesehen werden", erwähne ich.
„Willst du hier in der Seitengasse stehen bleiben und darauf warten, dass sie uns suchen? Der Starke wacht da drinnen gerade auf. Wer weiß, wie lange es dauert bis diese Tür wieder aufgeht und er mit zehn weiteren Starken hierauskommt und uns wieder darein schleift?" Tonis Stimme klingt ganz anders als sonst. Irgendwie bedrohlich. Angst und Wut mischen sich in ihr. Ich bin sprachlos, wie anders er auf mich wirkt. So kenne ich ihn gar nicht. Und Tami ebenso nicht, denn auch sie ist plötzlich ganz still.
„Ok", antworte ich dann etwas verunsichert, „Dann sollten wir weiter."
Ich weiß nicht, was mit Toni ist. Sonst ist er immer so unentschlossen und lässt sich aber nie aus der Ruhe bringen und jetzt macht er einem richtig Angst. Doch ich habe die Waffe und ich habe keine Angst davor sie gegen Toni einzusetzen, wenn es sein muss. Hauptsache ich schaffe Aurora und Tami heil hier raus.
Wir gehen zum Zaun. An der Seite ist ein kleines schmales Loch, durch das Aurora und Tami durchpassen. Doch Toni und ich sind zu groß dafür und müssen über den Stacheldrahtzaun klettern. Ich bin so vorsichtig wie möglich, doch ich bleibe trotzdem mit meiner Hose hängen und greife, um nicht runterzufallen direkt in einen der Stachel. Ich würde am liebsten schreien, doch ich beiße mir stattdessen so fest auf die Lippe, dass ich Blut schmecke. Na toll, jetzt blute ich an meiner Hand und meiner Lippe.
Toni bleibt ebenfalls am Draht hängen und auch er schafft es nicht laut los zu schreien.
Auf der anderen Seite angelangt, sieht er wieder auf seine Karte. Er geht langsam weiter und wir folgen ihm. Ich will Aurora an die Hand nehmen, doch sie traut sich nicht und nimmt stattdessen Tamis. Okay, Tami ist eine Frau und vielleicht hat Aurora einfach weniger Angst vor ihr als vor mir oder es ist so eine Art Bindung zum eigenen Geschlecht. Was weiß ich? Trotzdem schmerzt es, dass meine eigene kleine Schwester Angst vor mir hat. Tami sieht mir das an und versucht mir mit einem Lächeln zu signalisieren, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Aber genau das mache ich leider.
„Ich pass schon auf sie auf", flüstert Tami, doch das hilft nur ein bisschen. Wir landen in einem leeren Hinterhof. Viel ist nicht zu sehen außer einem einzelnen Baum in Mitten von wucherndem Unkraut und Häuserwänden, die ihn umgeben. Kein großer Sichtschutz. Wenn wir quer über den Hinterhof laufen, könnte man uns vom Schlachthaus aus sehen.
„Und welches ist jetzt die Lagerhalle?", fragt Tami.
„Das alles. Sie scheint sehr groß zu sein", antwortet Toni.
Wir laufen schnell zur nächstgelegenen Tür und hoffen darauf, dass nicht genau in diesem Moment ein Besetzer aus einem der Fenster schaut.
In der Lagerhalle verkriechen wir uns alle in eine sichere Ecke, um dort auf die Nacht zu warten. Toni studiert die Karte ganz genau. Aurora hält sich an Tami fest und ich versuche mir währenddessen nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das trifft. Kann man es mir verdenken? Immerhin ist sie mir das wichtigste auf der Welt und für sie bin ich nur ein Fremder.
„Geht es dir gut?", frage ich sie vorsichtig.
„Was ist hier los? Wovor laufen wir weg?", fragt Aurora mich und in ihren braunen Rehaugen sehe ich Angst.
„Vor den Besetzern, die uns eingefangen haben." Wie viel weiß sie davon noch? Hat sie das auch alles vergessen?
„Die Besetzer? Wer ist das? Und warum jagen sie uns? Was haben wir denn getan?"
„Nichts. Wir haben ihnen nichts getan. Das ist alles etwas kompliziert. Ich erkläre es dir ein anderes Mal, Rehlein."
„Rehlein?" Ich seufze. Nicht mal das weiß sie mehr.
„Ja, das ist mein Spitzname für dich, wegen ..."
„... meinen großen braunen Augen, nicht wahr?"
Ich sehe sie überrascht an. „Ja. Das weißt du noch?"
Sie zuckt mit den Schultern. „Es ist mir einfach grade eingefallen, als du mich so nanntest, dass ich das schon öfters gehört hatte."
„Ja, seit deiner frühsten Kindheit nenne ich dich nun schon so. Was noch? Woran kannst du dich noch erinnern?"
Sie denkt angestrengt nach und zuckt dann wieder mit den Schultern. „Mehr fällt mir nicht ein."
Ich sehe sie mit einem zarten Lächeln an. „Es ist immerhin ein Anfang."
„Naja, zur Not müssen wir uns eben ganz neu kennenlernen ... also ich dich. Du kennst mich ja noch", lacht sie und ich versuche auch zu lachen, aber das ist nicht so einfach, weil ich es nicht lustig finde. Aber jedes ihrer Lachen ist wertvoll, sodass ich es nicht wage, ihr Lachen verstummen zu lassen.
„Wie lange müssen wir hier denn warten?", fragt Aurora uns.
„Bis es dunkel wird. Also etwa eine Stunde", antwortet Tami ihr.
„Könnt ihr mir solange etwas über mich erzählen?"
Wir sehen sie alle verblüfft an. „Was willst du denn über dich wissen?", frage ich sie.
„Naja, wie ich so war? Was habe ich gerne gemacht und was nicht? Wo komme ich eigentlich her? Und woher kenne ich euch alle?"
Das ist so verrückt. Aber ich mache es. Ich erzähle meiner kleinen Schwester alles, was sie über sich selbst wissen muss.

Rehaugen (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt