- 6 -

1.9K 174 3
                                    

Wir waren auf einem Berg und ich schaute ins dunkle leere Tal. Ich war die ganze Nacht lang wach gewesen, weil ich wusste, dass mein Vater den Schlaf brauchte. In der Ferne dämmerte es schon langsam, als Aurora und unser Vater schliefen. Jedenfalls dachte ich, dass sie beide schliefen, doch Aurora setzte sich plötzlich zu mir und jagte mir den Schrecken meines Lebens ein, weil sie so leise dabei war.
„Warum bist du wach?" Ich sah sie nicht an. Ich ärgerte mich über das, was ich am Nachmittag zu ihr gesagt hatte.
„Ich habe so viele Fragen, Adam."
Ich wusste es.
Ich drehte mich zu ihr und seufzte. Vielleicht war sie ja bereit dazu die Wahrheit über unsere Welt zu erfahren. Aber war ich auch bereit dazu meiner kleinen unschuldigen Schwester ihre Kindheit zu rauben?
„Was für Fragen?"
„Warum genau flüchten wir?" Ich sah sie lange an.
„Aurora? Was genau hat Papa dir alles erzählt?"
„Papa hat mir gar nichts erzählt. Ich weiß von Hannah, dass wir flüchten müssen, weil die Besetzer uns jagen."
Hannah? Dieses Miststück.
„Was hat Hannah dir noch alles erzählt?", versuchte ich ruhig zu sagen und meine Wut zu unterdrücken.
„Sonst nichts weiter. Adam, wer sind die Besetzer?"
Ich seufzte erneut.
„Die Besetzer sind außerirdische Wesen, die vor fast 50 Jahren auf unserem Planeten landeten und sich die Herrschaft über die Welt erkämpften."
„Erkämpften?"
Ich nickte. „Wir haben uns gewährt, aber die Besetzer waren stärker. Also flüchteten die restlichen Menschen in die Wälder um sich dort zu verstecken. Zunächst jagten sie uns nicht. Man sagt, dass sie die Menschen in Sicherheit wiegen wollten und deshalb erst nach fünf Jahren plötzlich in die Wälder stürmten und Menschen einfingen und töteten. Und dann waren sie plötzlich wieder fort. Wieder herrschte fünf Jahre Frieden, bevor sie erneut in die Wälder kamen, um uns einen Sommer lang zu jagen. Und das wiederholte sich wieder und wieder. Und nun sitzen wir hier und warten auf den nächsten Sommer."
Ich starrte in die Ferne.
„Und warum warten sie immer fünf Jahre? Warum kommen sie nicht einfach so? Wäre es für sie dann nicht viel leichter?" Sie wirkte kein Stück verängstigt. Eher neugierig. Und das überraschte mich. Als man mir diese Geschichte damals erzählt – ok, ich war zu dem Zeitpunkt sogar erst sieben gewesen – bekam ich furchtbare Angst. Aber sie ... ich glaube meine kleine Schwester ist kein ängstliches Rehlein.
„Ich weiß nicht, warum sie immer fünf Jahre warten. Aber ein altes Sprichwort lautet: „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul." Wir sollten froh sein, dass sie uns die Möglichkeit zur Flucht lassen."
Sie nickte einsichtig und schaute ebenfalls ins Tal. Eine Weile herrschte Stille, dann hatte sie neue Fragen.
„Woher weißt du, dass sie uns essen?"
„Das sind Geschichten, die einfach weitererzählt wurden und sich überall verbreiten."
„Aber woher weißt du, dass sie es auch wirklich tun? Könnten doch auch einfach irgendwelche Gerüchte sein."
„Niemand denkt sich solch abscheuliche Gerüchte aus."
„Aber es kann doch sein, dass ..."
„Schluss jetzt", unterbrach ich sie lautstark. „Das sind keine Gerüchte! Sie jagen uns. Sie fangen uns. Und dann töten und essen sie uns. Ich weiß nicht, warum sie das nur alle fünf Jahre machen und nicht dauerhaft, aber es ist eben so."
Sie sah mich mit ihren großen Augen verschreckt an und machte keinen Mucks. Ich holte tief Luft.
„Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht anbrüllen. Es ist nur kein Thema, über das ich gerne nachdenke. Aber ich bin beruhigt, dass du damit so erwachsen umgehst. Immerhin einer von uns. Also hast du noch weitere Fragen?"
Sie zögerte, stellte sie dann aber doch. „Wie sehen die Besetzer aus?"
Ich dachte an all die Geschichten, die man mir über sie erzählt hatte.
„Ich weiß es nicht. Manche sagen, sie sind große, dünne, weiße Gestalten, die mehr über den Boden schweben als zu laufen. Von anderen habe ich gehört, dass sie wie Menschen aussehen, die alle schneeweiße Haut haben. So ein Verrückter, dem wir vor fünf Jahren bei unserer letzten Jagd begegneten, meinte es wären riesige blaue Kreaturen, die wie Würmer über den Boden kriechen. Und einer meinte vor einigen Jahren mal zu mir, dass er sich so, wie die Besetzer aussehen, die Seelen von Menschen vorstellt."
„Als sie Mama gefangen haben, hast du sie da nicht gesehen?"
„Nein, habe ich nicht."
„Was hast du damals gesehen?"
Daran wollte ich nicht denken. Ich versuchte das Bild aus meinem Kopf zu verbannen, aber es war für alle Zeiten eingebrannt. Aurora hatte es geschafft, es zu verdrängen. Wenn ich es ihr erzählte, hätte sie sich womöglich wieder daran erinnert und das wollte ich ihr nicht zu muten.
„Darüber möchte ich nicht reden, ok?"
Sie sah mich traurig an, nickte dann aber.
„Du solltest dich wieder hinlegen und weiterschlafen."
„Ich bin nicht müde. Warum legst du dich nicht eine Weile hin und ich halte so lange Wache? Du siehst sehr müde aus."
Ich lachte etwas gequält. Wie gern hätte ich geschlafen. Aber ich konnte meiner kleinen Schwester nicht die Wache überlassen.
„Nein, alles gut." Ich zwang mich zu einem Lächeln.
„Dann wache ich mit dir, ok?" Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter.
„Wenn du unbedingt willst."
Wir saßen einfach so da und starrten in die dunkle Nacht. Bis ich irgendwann doch einschlief ohne es zu merken.

Rehaugen (Band 1)Where stories live. Discover now