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„Du hast was?", frage ich ihn bedrohlich ruhig. Er hört mir in meiner Stimme meine Wut an und beginnt sofort sich stotternd zu rechtfertigen.

„Ich ... ich wusste es doch nicht. Okay? ... Ich meine ... ich hatte doch gar keine Ahnung, dass es vergiftet ist. Es sah alles so lecker aus und ... ich dachte, eine kleine Stärkung könnte nicht schaden. Woher sollte ich das denn bitte wissen?"

Es sind Tränen auf seiner Wange. Kein Schweiß.

Er weint tatsächlich.

Ich stehe auf und drehe mich zu Damik. „Warum konntest du uns nicht einfach allen einen Zettel unter der Tür durchschieben, um uns zu warnen?"

„Wegen der Überwachungskameras im Gang."

„Was für Kameras?!", fragt Tami entsetztet.

„Aber wenn in allen Gängen Kameras sind, müssten sie uns dann nicht schon längst gefunden haben?", hake ich nach.

„Die Computer spielen alte Bänder ab. Aber wer weiß, wie lange es noch dauert, bis die Starken, die die Bildschirme überwachen, das bemerken. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns beeilen."

„Und was ist mit Lukas?", fragt Toni. „Wird er jetzt sterben?"

„Höchstwahrscheinlich", antwortet Damik nur.

„'Höchstwahrscheinlich'?! Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Keine Idee, wie wir ihm helfen könnten?", frage ich ihn zornig. Er ist doch ein Gelehrter. Gelehrte gelten doch als das intelligente Geschlecht. Dann soll er auch gefälligst mal seine Intelligenz nutzen!

Damik zieht einen Stift aus einer Tasche und stellt sich vor Lukas. „Mach den Mund auf", befiehlt er.

Lukas zögert, dann gehorcht er und Damik schiebt den Stift tief in seinen Hals. Lukas beginnt sofort zu würgen, aber sonst passiert nichts. „Lukas, du darfst deinen Würgereflex nicht unterdrücken. Deine einzige Chance zu überleben besteht darin, das ganze Gift wieder zu erbrechen", erklärt Damik ihm. Lukas würgt aber er schafft es nicht.

Ich balle meine rechte Hand zu einer Faust und schlage ihn gezielt und fest in seinen Magen. Endlich kotzt er. Nicht gerade schön anzusehen, aber Hauptsache es hilft. Tami dreht sich ein bisschen angewidert weg. Von Toni hört man nur ein „Woah krass, was hast du alles gegessen?".

Ich halte Lukas, während er sich weiter übergibt.

Als er fertig ist und nichts mehr rauskommt, sieht er noch beschissener aus als vorher. Ich bin skeptisch, ob das wirklich was gebracht hat oder doch nur Zeitverschwendung war. Ich weiß, Damik hilft uns und bisher hat er das auch, aber ich vertraue ihm trotzdem nicht. Er ist und bleibt ein Besetzer.

„Oh mann, du siehst immer noch verdammt beschissen aus", kommentiert Toni Lukas' Verfassung völlig unpassend.

Ich halte Lukas noch immer, weil ich nicht glaube, dass er sich alleine auf dem Stuhl halten könnte und er stützt nach vorn übergebeugt seinen Kopf und weint. „Adam?", flüstert er. Seine Stimme ist kaum zu hören.

„Ja?"

„Ich will zu Linda", weint er. „Ich habe ihr versprochen, dass ich zu ihr zurückkomme."

Das habe ich auch. Gibt es denn wirklich gar kein Versprechen, dass ich einhalten kann?

„Du schaffst das schon. Noch bist du nicht tot, Lukas."

„Aber wenn wir uns nicht beeilen, dann sind wir es bald alle", redet Toni mir dazwischen und Tami und ich strafen ihn beide mit einen Blick des Todes. Doch er hat Recht. Wir sind schon viel zu lange hier.

„Also gut Toni. Komm her. Du musst Lukas auf dem Weg nach draußen stützen."

„Was ich?", fragt er entsetzt. „Ich bin doch niemals stark genug, um so viel Muskelmasse alleine zu schleppen."

„Ich bin zwar halbtot, aber nicht taub, Toni", keucht Lukas.

„Ok. Tami, du musst ihm dabei helfen."

„Alles klar", stimmt sie sofort zu.

„Ich trage Aurora. Damik, du bringst uns gefälligst so sicher und so schnell wie möglich hier raus."

„Das versuche ich schon die ganze Zeit, falls es euch noch nicht aufgefallen ist."

Ich gehe zu Auroras Krankenbett und löse sie vorsichtig von allen Schläuchen, bevor ich sie hochhebe.

Toni und Tami stemmen Lukas hoch. Er quält sich. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie weit wir es mit ihm schaffen werden.

Wir sind nur so stark, wie unser schwächstes Glied', höre ich die Stimme meines Vaters. Lukas ist momentan alles andere als stark. Aber ich habe es Linda versprochen und ich will dieses Versprechen nicht auch noch brechen. Nicht so wie das, dass ich Aurora gab, als ich ihr versprach, dass die Besetzer sie niemals kriegen würden.

„Also dann. Was jetzt, Damik?", frage ich ihn.

„Folgt mir."

Wir gehorchen ihm, wie schon die ganze Zeit.

Vorsichtig trage ich Aurora und Toni und Tami geben ihr Bestes so schnell wie möglich mit Lukas hinterher zu kommen.

Er kann selber kaum die Beine bewegen. So werden wir nicht weit kommen. Ich überlege, ob ich ihn nicht mittragen sollte und Tami nimmt dafür Aurora. Aber möchte Aurora nur sehr ungern aus meinen Armen geben. Deshalb versuche ich es so lange wie möglich hinaus zu zögern.

Als wir wieder vor dem Treppenhaus stehen, ist mir bereits klar, dass das so nicht funktionieren wird.

„Tami? Nimmst du Aurora? Dann trage ich mit Toni Lukas runter."

Sie nickt und ich sehe eine gewisse Erleichterung in ihren Augen.

Ich übergebe ihr ganz vorsichtig Aurora und nehme dann Lukas' Beine, während Toni ihn unter seinen Armen hält.

„Ok Mann. Wir tragen dich jetzt runter", sage ich und mir fällt plötzlich auf, dass er die Augen zu hat.

„Lukas?" Wir legen ihn vorsichtig ab. Damik kniet sich über ihn und fühlt seinen Puls.

„Er hat keinen Herzschlag mehr. Es tut mir leid. Er ist tot." Damik sieht mich bemitleidenswert an. Sogar sein Fakelächeln ist verschwunden.

Ungläubig schüttle ich meinen Kopf hin und her.

Das kann nicht sein. Ich dachte, er hätte das ganze Gift ausgekotzt? Er kann nicht tot sein. Vielleicht hat Damik seinen Puls nur falsch gemessen. Ich meine, nur weil er ein Gelehrter ist, weiß er doch auch nicht alles!

Ich fühle selber an Lukas Hals, aber finde auch nichts. Vielleicht ist es Frust oder Wut, weil ich ihn nicht retten konnte, aber ich beginne ihn in sein Gesicht zu schlagen in der Hoffnung, dass er plötzlich aufwachen könnte.

Die restliche Farbe, die Lukas noch in seinem Gesicht hatte, verschwindet langsam.

Er ist wirklich tot.

Es tut mir leid, Linda. Du hattest Recht. Ich habe schon wieder versagt.

Rehaugen (Band 1)Where stories live. Discover now