Ich kenn dich nicht ✅

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Seine Hände liegen an meiner Hüfte, ich kann die Wärme die von ihm ausgeht durch meine Kleidung spüren und fange automatisch an zu lächeln.

Mein Kopf liegt an seiner Brust, meine Arme um seine Oberkörper geschlungen stehen wir hier, auf dem Bahnsteig an dem wir uns schon einmal getroffen haben.

Ich spüre seinen Herzschlag und wie sein Brustkorb vibriert als er leicht hustet. Mit einer Hand fährt er über meinen Kopf und meine Haare, drückt mich fester an sich als mehrere schwarz gekleidete Männer an uns vorbeilaufen.

Es macht mir nichts aus hier zu stehen. Hier inmitten von Leuten die es eilig haben, Leute die nach Hause wollen zu ihren Familien, vermutlich mit ihren Kindern und ihren Frauen zu Abend essen um danach zusammen auf dem Sofa zu sitzen und einen Film anschauen.

Das war immer meine Definition von einer perfekten Familie. Die Vorstellung davon, dass ich mit meinen beiden Kindern auf der Couch sitze, eine Tasse Tee in der Hand habe und meine kleine Tochter an ihrer Flasche nuckelt während ihr älterer Bruder stolz seinen eigenen Becher in der Hand hält.

Die Vorstellung, wie mein Ehemann gestresst nach Hause kommt, uns erblickt und anfängt zu lächeln, all seine Sorgen vergisst und sich zu uns setzt, seine Tochter auf seinen Schoß nimmt, sich sein Sohn in seine Arme kuschelt und er seinen freien Arm um mich legt und mir einen Kuss auf die Lippen drückt.

Die Vorstellung, wie das kleine Mädchen auf seinem Schoß an seine Brust gekuschelt einschläft und er sie ins Bett bringt.

Die Vorstellung, wie wir vor dem kleinen Gitterbett stehen, sein Arm um meine Hüften gelegt ist und er mir immer wieder sagt wie sehr er uns liebt.

Die Vorstellung, wie unser Sohn mitten in der Nacht mit seinem Kuscheltier in der Hand in unser Zimmer kommt, um uns zu fragen ob er in unserem Bett schlafen darf weil unter seinem Bett Monster sind.

Am nächsten Morgen wird dann mein Ehemann zusammen mit meinem Sohn nach den Monstern suchen, während ich mit meiner Tochter auf dem Arm im Türrahmen stehe und die beiden beobachte.

Ich schließe meine Augen und atme Harolds Geruch ein bevor ich mich leicht von ihm entferne. Mit meinen Fingern fahre ich seine Brust hinauf, spüre seine weiche Haut und die definierten Muskeln unter dem schwarzen Hemd. Ich greife mit meinen Händen in seinen Nacken, fahre durch die lockigen Haare die er unter seiner Kapuze versteckt. Langsam ziehe ich ihm das schwarze Stück Stoff von seinem Kopf und lächle bei seinem Anblick. Seine  Augen sind von langen Wimpern umgeben, seine vollen Lippen lächeln mich an und an seinem Kinn befinden sich einige Bartstoppeln. Ich fahre über seine Wange, sein Kieferknochen, über seine Schläfe und wieder zurück in seinen Nacken.

Er zieht mich noch ein Stück näher an sich und ich stelle mich auf Zehenspitzen doch bevor sich unsere Lippen endgültig treffen zerstört ein lautes Piepen die Spannung zwischen uns.

Harold verschwimmt vor meinen Augen, sein Griff um meinen Körper lockert sich und ich sehe nur noch Schwarz.

Frustriert presse ich meinen Kopf fester in die weichen Kissen und stöhne genervt auf. Als ich allerdings realisiere was ich gerade geträumt hatte erschaudere ich.

Ich sollte von Lenn träumen, der Mann der mich mag, den ich mag.

Ich sollte von dem Mann träumen, der immer für mich da ist, der alles für mich tut und nicht von jemanden, von dem ich gerade einmal den Namen kenne. Jemand, mit dem ich keine Verbindung habe.

Nachdem mein Wecker fünf Minuten später erneut piept, schlage ich die Decke zurück und steige aus dem Bett. Als meine Füße den kalten Holzboden berühren, würde ich am liebsten wieder zurück in die Weichen Kissen und weiter träumen.

Müde suche ich mir eine Jeans und einen Pullover aus dem Schrank, bevor ich zusammen mit meinen restlichen Klamotten ins Badezimmer trotte und Duschen gehe.

In der Hoffnung, dass meine Gedanken wieder eine gerade Struktur annehmen und nicht mehr durcheinander arbeiten, lasse ich das Wasser über mein Gesicht fließen, ehe ich meine Haare einschäume.

Mit einem Apfel und einer Flasche Wasser in der Tasche verlasse ich um kurz vor Neun meine Wohnung und mache mich auf den Weg zur Bahn. Mein Auto würde später von einem Abschleppdienst geholt werden und direkt zu einer Werkstatt gebracht werden.

Alleine bei dem Gedanken an die Rechnung am Ende, läuft es mir kalt den Rücken runter.

Die Bahn ist wie immer voll und aus Reflex sehe ich mich nach Harold um. Als ich ihn neben der Tür sitzen sehe, arbeite ich mich durch die Leute und gehe auf ihn zu.

Er hat wie immer einen schwarzen Hoodie an und die Kapuze über seinen Kopf gezogen. Er sieht auf den Boden und hat die Hände zwischen seinen Knien miteinander verschränkt.  "Guten Morgen Harold.", sage ich als ich vor ihm stehe aber er zeigt keine Reaktion. "Harold?", nicht einmal eine kleinste Regung zeigt er, erst als ich ihn an der Schulter anfasse, zuckt er zusammen uns schreckt hoch.

Seine Kapuze rutscht leicht nach hinten und ich kann das erste Mal seine Augen sehen. Seine grünen Augen sind vor Schreck geweitet und er zieht abrupt seine Kapuze wieder vor.

"Darf ich fragen wer du bist?", ohne erneut aufzusehen stellt er mir die Frage, die meine Stimmung runterzieht.

"Megan.", murmele ich leise, bin enttäuscht darüber, dass er sich nicht an mich erinnert, meinen Namen nicht mehr kennt.

"Sorry, ich kenn dich nicht.", seine Stimme bricht am Ende des Satzes und er räuspert sich kurz. An der nächsten Station steige ich hinter ihm aus der Bahn und sehe nur noch wie er in der Menge verschwindet. Er verschwindet, so wie ich anscheinend aus seinem Gedächtnis verschwunden bin.

Paranormal | H.S. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt