Blutschwestern

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Freitag, 29.01.2016

Warum muss man Möhren kochen? Das ist Vergewaltigung von gutem Essen. „Annabelle, du bist 17 Jahre alt, also  benehm dich nicht wie ein kleines Kind und iss die Möhren einfach mit.", befahl Mama etwas genervt darüber, dass ich die Möhren nicht aß. „Muss das sein?", murmelte ich mit gequältem Gesichtsausdruck. „Ja.", meinte sie und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es macht ihr also auch noch Spaß mich zu foltern.

„Dein Vater kommt wahrscheinlich nächstes Wochenende her.", berichtete Mama, während ich durch die Qualen der Möhren musste. „Ich dachte wir fahren dieses Wochenende zu ihm?", fragte ich etwas enttäuscht. Papa wohnt fast vier Stunden von hier entfernt, am Strand und arbeitet dort in einem Hotel. Was genau er da macht weiß ich auch nicht. „Das geht nicht. Die Patrics brauchen im Moment unsere Hilfe.", erklärte Mama und hängte hinten noch einen Seufzer dran. Immer die Patrics! Kathrin und ich gehen Möbel holen. Helf Tim doch bitte sich zurecht zu finden. Maddy, Tim und Kathrin kommen zum Kaffetrinken vorbei. Ich habe meinen Vater schon fast einen Monat lang nicht mehr gesehen und jetzt muss ich noch eine Woche warten, bloß weil die mal wieder Hilfe brauchen. Meine Eltern sind zwar nicht geschieden, aber trotz der Vorteile dass Papa dort wohnt, ist es manchmal echt scheiße ihn nicht hier zu haben. „Immer brauchen sie Hilfe.", nuschelte ich wütend und stach mit der Gabel in eine Erbse. „Was hast du gesagt?" „Schade.", log ich und steckte mir die Erbse in den Mund. „Tut mir leid, aber wir können es nunmal nicht ändern.", meinte Mama und sah mich aufmunternd an, doch es vermieste mir meine Laune bloß noch mehr.

Für eine Weile aßen wir schweigend weiter, bis Mama die Stille durchbrach:„Könntest du heute Abend auf Maddy aufpassen?" Das Essen blieb mir im Hals stecken und ich fing heftig an zu husten. Das kann doch nicht ihr Ernst sein! Ich trank schnell einen Schluck und konnte immer noch nicht ganz fassen, was Mama eben gesagt hat. Aber vielleicht habe ich mich ja auch bloß verhört. „Wie bitte?", hackte ich hoffnungsvoll nach. „Pass heute Abend bitte auf Maddy auf. Kathrin hat immer noch einiges zu regeln und sie weiß mit Tim einfach nicht weiter. Sie hat ihm mehrere Male gesagt, dass er auf Maddy aufpassen soll, aber er hört nicht und ist die meiste Zeit nicht Zuhause.", erklärte Mama und dachte wohl, dass das sofort heißt ich würde auf Maddy aufpassen, aber da hat sie sich geschnitten. „Mama, du weißt genau, dass ich nicht gut mit Kindern klarkomme.", versuchte ich sie dazu zu bringen, mich nicht zu den Patrics zu schicken um das kleine Biest zu babysitten. Meine Aussage stimmt nur so halb. Ich bin mir sicher, dass wenn ich es versuchen würde, ich gut mit Kindern auskommen würde, aber ich will es gar nicht versuchen. „Maddy ist doch ganz lieb und du musst auch fast nichts machen." Das ich nicht lache. Das Mädel ist fast so schlimm wie ihr Bruder! „Dann kann sie doch auch alleine Zuhause bleiben.", versuchte ich es nochmal, doch nun schien Mama ziemlich wütend. „Du wirst auf sie aufpassen. Ende der Diskussion!", beendete Mama diese Diskussion.

Wütend stand ich auf und stürmte in mein Zimmer. So kann ich es wenigstens noch auf die Hormone schieben und komme damit weg. Würde Mama sehen, wie ihr kleines Engelchen ausflippen kann, würde sie wahrscheinlich in Ohnmacht fallen und meine Großeltern würden mich verstoßen, genau wie sie es bei meiner Tante Melanie getan hatten. Sie ist mit 21 schwanger geworden und ihr Freund  hat sie deshalb verlassen. Anstatt sie zu unterstützen, haben Oma und Opa sie enterbt und den Kontakt abgebrochen. Sie können auch Papa nicht leiden, da er mal ein ziemlicher Badboy war, aber damit haben sie sich mehr oder weniger abgefunden. Da ist es ja kein Wunder, dass ich meine Großeltern auf den Tod nicht ab kann und das einzig Gute an ihnen sind die 200€ in den Karten zu Geburtstagen und Weihnachten. Die anderen kriegen nicht so viel, aber ich bin ihr Lieblingsenkel. Noch ein Vorteil, wenn man immer das Engelchen spielt.

„Danke, dass du das machst. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich und deine Mutter tun würde.", meinte Kathrin, während sie ihren Mantel anzog, „Bedien dich an Essen und Trinken. DVDs sind in der Kommode, auf der der Fernseher steht und wenn sonst noch irgendwas ist, kann Maddy dir sagen, wo es ist. Sie geht bitte spätestens um 22Uhr ins Bett. Du kannst gerne in meinem Bett schlafen und nicht auf der Couch. Okay, dann bin ich mal weg. Tschüss Maddy!" "Tschüss!", rief Maddy ziemlich gelangweilt aus dem Wohnzimmer. „Tschüss Annabelle.", verabschiedete Kathrin sich auch von mir und umarmte mich schnell, bevor sie ging.

Ich setzte mich zu Maddy ins Wohnzimmer und sah, dass sie gerade Adventure Time guckte. Guckt Alicia auch gerne, ist allerdings nichts für mich. Also holte ich mein Handy raus und schrieb Jonas eine Nachricht, in der Hoffnung, dass er nichts besseres zutun hat und Zeit hat um mit mir zu schreiben, damit ich nicht mit Maddy reden muss. Das Glück war auf meiner Seite und Jonas schrieb gleich zurück.

„Mit wem schreibst du?", fragte Maddy irgendwann. „Mit meinem Freund.", antwortete ich, ohne von meinem Handy aufzuschauen. „Ist er heiß?", wollte das zehnjährige Mädchen von mir wissen. „Ich denke du solltest noch ein paar Jahre warten, bevor du dir über sowas Gedanken machst.", meinte ich und musste grinsen. „Ich frag doch bloß. Die Jungs in meinem Alter sind eh voll die Pussies.", erwiderte sie und überraschte mich damit. Ich habe noch nie gehört, dass jemand in ihrem Alter sowas sagt. „Hat Tim das gesagt?", fragte ich, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie sowas sagen würde. „Ich hab einen eigenen Wortschatz und Mund.", erklärte sie und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Okay, jetzt bin ich überzeugt, dass Tim und sie Körper getauscht haben. „Du, Annabelle?" „Ja?" „Ich weiß, dass du Tim das Wasser mit Absicht übers Shirt gekippt hast und ich weiß auch, du ihn getreten hast.", teilte sie mir mit einem bösem Grinsen mit. Was ist sie, ein Mafia Boss oder was? „Was?", spielte ich, als hätte ich absolut keine Ahnung, wovon sie da spricht. Wahrscheinlich hat Tim ihr irgendwas erzählt.

Bevor ich überhaupt realisieren konnte, was passiert, hatte Maddy mein Handy und stand auf der anderen Seite des Zimmers. Was denkt dieses Biest sich eigentlich? „Gib mir mein Handy wieder!", befahl ich und schaute sie ernst an, doch sie fing an zu grinsen. Ihr Bruder ist nicht der einzige Teufel. „Nö." Wütend lief ich zu rüber und versuchte ihr das Handy weg zunehmen, doch sie war schneller. „Maddy, gib mir mein Handy!", forderte ich und versuchte gar nicht erst, meine Wut zu verstecken. „Dein Lover will sich morgen mit dir treffen.", verriet sie mir, nach einem Blick auf mein Handy. „Du bist noch schlimmer, als dein Bruder, weißt du das?", zickte ich sie an und sie begann wieder zu grinsen. „Du meinst wohl, süßer, hübscher, schlauer und cooler." Und arroganter. „Gib mir einfach mein Handy wieder!", schnauzte ich sie an, da sie mir wirklich auf die Nerven ging. Schnell lief sie zum Sofa und fing an, darauf rumzuspringen. „Sag mir erst, wie du das machst, dass jeder dich für perfekt hält und niemals denken würde, dass du irgendwas falsches oder gemeines tust.", forderte sie und hörte immer noch nicht auf, rumzuspringen. „Ich bin freundlich.", antwortete ich und hoffte, dass sie sich damit zufrieden gab. Denn eigentlich steckte mehr dahinter, als nur freundlich zu sein. „Du musst doch mehr machen!" Sie scheint wirklich schlauer zu sein, als ihr Bruder. „Du bist erst zehn, du verstehst das nicht.", tischte ich ihr eine ziemlich lahme Ausrede auf. „Vorurteile!", sang das kleine Mädchen und sprang immer noch rum. Wie hat sie so viel Puste? „Maddy, ich hab echt die Schnauze voll! Gib mir einfach mein Handy wieder!" „Versprich mir, dass du mir gleich deine Taktik und alles drum und dran erklärst." "Versprochen."

Schlagartig hörte sie auf rumzuspringen und anstatt des typischen Grinsens der Patric Geschwister, hatte sie ein begeistertes Lächeln auf den Lippen. Sie hielt mir mein Handy hin und ich nahm es seufzend an. „Also, wie machst du es?", fragte sie ganz aufgeregt und schaltete schnell den Fernseher aus, bevor sie sich im Schneidersitz aufs Sofa setzte. Ich strich ein paar meiner braunen Haare, die sich aus meinem Zopf befreit hatten, hinter mein Ohr und setzte mich dann in der gleichen Position vor sie. Ich habe es ihr versprochen, ich muss es ihr jetzt erzählen. Aber irgendwie muss ich sichergehen können, dass sie es nicht weiter erzählt.

„Hol mal bitte ein ganz scharfes Messer und Taschentücher.", bat ich sie und erst sah sie mich etwas geschockt an, bevor sie ein Taschenmesser aus ihrer Hosentasche holte. Ich hatte also recht, sie trägt ein Messer bei sich. Dann nahm sie eine Packung Taschentücher, die auf einem kleinen Tischchen neben dem Sofa standen. Dazu erklärte sie noch schnell, dass ihre Mutter die dort liegen hat, falls sie bei Filmen heulen muss - was ziemlich oft vorkommt. „Nehm dir ein Taschentuch und halte es unter deinen Finger." Sie tat, was ich ihr gesagt hatte, während ich das gleiche tat. Dann schnitt ich ihr mit dem Taschenmesser in die Fingerkuppe, weshalb sie die Augen zusammenkniff. Das selbe machte ich bei mir und dann hielten wir unsere Finger aufeinander. „Alles, was du von mir lernst, bleibt unter uns.", stellte ich klar und sie nickte. Für ein paar Sekunden ließen wir unsere Finger noch aufeinander, bevor wir das Blut von unseren Fingern wischten. „Wir sind Blutschwestern.", sagte Maddy begeistert und grinste mich an. Ja, sie ist auch süßer als ihr Bruder.

Annabelle [PAUSIERT]Where stories live. Discover now