1. Through the Dark

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Leise verschloss ich den Verschluss meines Rucksackes. Ich hatte es satt. Ich wollte nicht mehr jeden Tag stundenlang dasitzen und üben, wie man richtig spielt oder wie man noch besser wird. Ich war es leid. Meine Eltern hatten mich dazu gezwungen, und da ich noch minderjährig war, konnte ich mich nicht dagegen wehren. Das sah nun anders aus. Ich würde in einigen Wochen 18 werden- und ich hatte heute Morgen beschlossen, dass es Zeit war für mich, zu gehen. Immerhin hatte ich ein Einzelzimmer hier, das war ein grosses Privileg, das nicht viele bekamen. Ich hatte es, weil ich als hochbegabt galt. Klar, ph. Das heisst jeden Tag fünf, sechs Stunden üben, üben, üben. Ich durfte als kleines Kind nie raus und mit anderen Kindern auf der Strasse rumtollen, nie durfte ich irgendwo raufklettern, da meine Mutter Angst hatte. Angst, dass ich runterfiel und mir die Hände aufschürfte und somit nicht mehr hätte spielen können. Ich war nie so, wie sie wollten. Ich wollte nach draussen, mit den anderen spielen, überall raufklettern. Oft, wenn ich hätte Querflöte üben sollen, sass ich am Fenster und beobachtete die Vögel in unserem Garten. Leider kam es nicht zu oft vor, dass ich nicht erwischt wurde. Das Internat war zwar nicht in einer Stadt- die nächste Stadt war eine gute halbe Stunde im Auto entfernt- aber man durfte nur selten raus. Schulsport gab es nur in der Halle, selbst beim schönsten Wetter.

„Charlotte, kommst du!", ungeduldig klopfte jemand an meine Tür. Es war meine kleine Schwester Sophie. Sie war freiwillig hier, sie war der Liebling meiner Eltern. Sie war hübsch, hatte keine Zahnspange, ihre Haare fielen in weichen Wellen ihren Rücken runter. Meine dagegen waren widerspenstig, sodass ich sie in einem Zopf zusammennehmen musste. Rasch schob ich den Rucksack unter mein Bett und zog mir die Uniform zurecht, dann öffnete ich die Tür und schenkte meiner Schwester ein genervtes Lächeln. „Es gibt Abendessen", sagte sie und zog mich am Ellbogen mit sich mit.

Im Speisesaal setzte sie sich zu ihren Freunden, während ich mich zu meiner Klasse setzte. Ich war akzeptiert, hatte aber keine festen Freunde. Nicht nach 7 Jahren. Schlimm, aber wahr.

Ich schaufelte mein Auflauf schweigend in mich rein. Ich stopfte mich absichtlich voll, da ich die ganze Nacht lang durchlaufen würde. Mein Ziel war die Stadt. London. Wenn ich mich beeilte, könnte ich schon am Morgen am Rand davon sein.

„He, Charlotte!", ich wurde angestupst. Es war Felix, er war in meiner Klasse und eigentlich mochte ich ihn noch. Er war zwar der Klassenclown, aber total sympathisch und hatte oft Gruppenarbeiten mit mir zusammen gemacht. „Hm?", gab ich zurück und trank mein Glas aus. „Hast du Lust, wir gehen nachher alle zusammen noch raus!"

Man durfte nach dem Abendessen nicht mehr alleine raus. Kindisch, finden alle Älteren. Die Jüngeren sagten das Gleiche, aber insgeheim waren sie froh über diese Regel. Das Internat stand nämlich inmitten eines Waldes, der ziemlich dunkel werden konnte. Ich kannte mich dank unzähligen heimlichen Joggingrunden ziemlich gut aus.

„Nein, ich muss noch Spanisch fertig machen", lächelte ich zurückhaltend. Bald, bald. Bald muss ich mich nicht mehr zurückhalten. So viele Jahre tat ich das jetzt schon gegen meine Natur, jetzt war genug.

„Schade. Kann ich nachher von dir Abschreiben?", bat er mich mit einem Grinsen. Ich musste zurückgrinsen und nickte. „Ich leg es dir vors Zimmer, muss noch üben gehen", erwiderte ich.

„Danke, du bist ein Schatz!"- „Kein Ding."

Ich beendete mein Mahl und liess dann unauffällig eine Flasche Wasser, eine Flasche Cola- die ich aus dem Lehrerzimmer mitgehen lassen habe- und zwei Sandwiches in meiner Jackentasche verschwinden. Bis morgen Abend sollte das notfalls reichen.

Dann stand ich auf und sagte: „Ich verzieh mich. Meine Spanischaufgaben liegen bei Felix vor dem Zimmer, falls jemand sie noch braucht. Bis dann."

Ich stellte meine Sachen in das Gestell und lächelte der Küchenangestellten zu, die das überwachte, dann ging ich rasch in mein Zimmer rauf. Dort löste ich hastig die Aufgaben und brachte sie zu Felix' Zimmer. Dann zog ich mich in mein Zimmer zurück und warf die Tür ins Schloss. Jetzt zwei Stunden schlafen, bis beide Nachtruhkontrollen durch waren, dann kann es losgehen. Ich hatte mir meinen Wecker auf halb elf gestellt und unter das Kissen gelegt. Rasch zog ich mir die dunkeln Klamotten an, die ich mir herausgesucht hatte, und legte mich dann ins Bett. Ich war total aufgeregt und hatte schwitzige Handflächen. Aber aus Erfahrung wusste ich, dass das vorbei sein würde, sobald ich erst mal handelte. Erstaunlich rasch schlief ich dann ein.

Das Geklingel meines Weckers riss mich aus dem Schlaf. Sofort stellte ich ihn aus und horchte, ob jemand herumlief oder ähnliches. Kein Geräusch zu hören. Perfekt.

Ich stand auf, ging nochmal kurz auf die Toilette, wusch mir das Gesicht, um ganz wach zu werden, und zerrte dann meinen Rucksack unter dem Bett heraus und legte ihn aufs Bett. Aus dem Kleiderschrank suchte ich noch meine dunkelgrüne Fleecejacke raus, die ich mir rasch überzog. Es war kälter als gedacht und ich könnte irgendwann noch froh darüber sein. Dann schulterte ich den schweren Rucksack und schaute mich ein letztes Mal in dem Zimmer um, das mich jetzt fast vier Jahre begleitet hatte. Zuvor teilte ich mir ein Zimmer mit Anna, aber sie hatte die Schule verlassen. Sie war meine einzige Freundin, die ich je hatte, aber wahrscheinlich hatte sie mich schon vergessen.

Dort waren meine Schuluniformschuhe, die schrecklich aussahen, aber ziemlich bequem waren- Omatreter halt. Daneben lagen der Jupe und der Blazer, die ich hoffentlich nie mehr sehen würde. Durch das Fenster schien der Mond, direkt auf meine Schultasche. Mit einem Schaudern wandte ich mich ab und atmete nochmal tief durch, dann öffnete ich leise die Tür und schlich mich auf den Flur. Ich hatte vor, durch das Küchenfenster abzuhauen. Das stand nämlich immer offen und es war im Erdgeschoss. Leise schlich ich los, darauf bedacht, die knarzenden Stellen auszulassen. Die kannte ich dank dem jahrelangen Joggen im Wald. Das musste ich in der Nacht machen, da es eigentlich verboten war, dort hinzugehen.

Als ich im Erdgeschoss angekommen war, seufzte ich erleichtert auf und warf meinen hüftlangen Zopf zurück. Auch das war etwas- meine Haare. Meine Eltern hatten bestimmt, dass ich sie so lange tragen musste. Jedoch nervten sie mich nur und ich hatte schon zweimal fast zur Schere gegriffen und sie eigenhändig abgeschnitten. Aber dann hatte ich mich doch nicht getraut.

Ich lief auf leisen Gummisohlen auf den Wald zu. Zum Glück war um diese Zeit niemand mehr hier. Trotzdem war ich unruhig, bis ich etwa zwanzig Meter weit im Wald drin war. Erst dann atmete ich auf und zog die Colaflasche aus dem Seitenfach. Ich trank einen grossen Schluck und verschloss sie dann. Ich wollte vollkommen wach sein, sonst könnte es gefährlich sein. Dann steckte ich mir einen Kaugummi in den Mund- ebenfalls aus dem Lehrerzimmer gemopst- und machte mich auf den Weg. Hauptsache weit weg von hier, das war mein einziger Gedanke.


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