Kapitel 19 - Drop it!

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„Eine Stunde! Ich habe eine Stunde gebraucht um dieses schreckliche Pferd wieder einzufangen!", motzte ich als ich am Abend in Embassys Box stand und ihr graues Fell striegelte. Sie hatte genießerisch die Augen geschlossen. Danielle stand in der Tür und grinste mich dämlich an.

„Wie bitte, soll ich dieses Pferd dazu überreden einen ganzen Parcours mit mir zu springen?"

„Na springen kann er doch.", versuchte Danielle es.

„Ja, und wenn er gut aufgelegt ist tut er es vielleicht sogar!", sagte ich ironisch und pfefferte den Striegel in die blaue Putzkiste. Nachdem ich Voyeur am Mittag endlich eingefangen hatte und es irgendwie auf seinen Rücken geschafft hatte, hatte er sich gegen sämtliche Paraden gewehrt. Schenkeldruck akzeptierte er überhaupt nicht, er stieg sofort hoch wenn mein Bein ihn auch nur berührte. Nach wenigen Minuten hatte ich die Schnauze voll und nahm ihn ran. Volten, Schulterherein, all die lustigen Sachen, die Voyeur absolut verabscheute, weil er meinem Bein nicht ausweichen konnte. Nach einer halben Stunde hatte ich den Kampf gewonnen und Voyeur stand, wohlgemerkt nur im Schritt, an den Hilfen. Im Trab ging das Spiel von vorne los. Nach eineinhalb Stunden hörte ich auf. Den Galopp ließ ich aus. Nachdem der Hengst an den Hilfen stand war er super zu reiten. Er war einer von der Sorte, die nicht viel dafür tun mussten um aufzufallen, sie fielen von ganz allein auf. Als ich schließlich den Hengststall verließ war ich mehr als nur fertig, ich war kurz davor tot umzufallen. Die Diskussionen die Voyeur führte, setzten sich beim Absatteln und beim in die Box führen fort. Er war hochgestiegen und mit seinen Vorderbeinen gegen Top Guns Box gekracht. Dieser schien das allerdings schon gewöhnt zu sein, denn er hatte nicht einmal mit dem Ohr gewackelt.

„Jedenfalls hat er dir nichts getan!", redete Danielle das Verhalten des Hengstes schön. Ich funkelte sie wütend an, verschloss Embassys Boxentür und räumte die Putzkiste in die Sattelkammer.

„Er wird mir auch nichts tun, dieses Tier hat keine Manieren!", knurrte ich. Als mein Handy klingelte war ich gerade dabei meine Hände zu waschen. Ich verdrehte die Augen. Ich wurde ständig zu den ungünstigsten Zeitpunkten angerufen. Ich fischte das Gerät aus meiner Tasche und blickte darauf, unbekannte Nummer.

„Fleming?", fragte ich in den Hörer während ich ihn mir zwischen Ohr und Schulter klemmte um mir die Hände abtrocknen zu können.

„Roxy? Hier ist Leo."

Ich war für einen Moment so perplex, dass ich meinen Kopf hob und das Handy auf den Boden fiel. Ich bückte mich schnell danach und stellte erleichtert fest, dass es noch an war und Leo noch in der Leitung.

„Äh... Hi Leo!"

„Alles okay? Soll ich später nochmal anrufen?", fragte er.

„Nein, schon gut. Was gibt's?"

„Ich habe die Klage vorbereitet und sie dir per Mail geschickt."

„So schnell? Super, danke!", mein Herz schlug unglaublich schnell, und das nur, weil ich mit ihm telefonierte!

„Ehm... ja. Schau sie dir an und melde dich bei mir!"

„Ja, ist gut."

„Vielleicht kannst du in die Kanzlei kommen, dann können wir nochmal darüber sprechen!", meinte er. Er redete schneller als sonst, das fiel mir sofort auf.

„Vor dem Qualifikationsspringen habe ich leider keine Zeit, danach vielleicht?", ich musste dringend mit Voyeur trainieren. Ich hatte den Hengst noch nicht einmal galoppiert und sollte in vier Tagen einen S-Parcours mit ihm absolvieren. Spätestens morgen würde ich die ersten Sprünge machen müssen.

„Nein, schon gut, es geht auch so.", wimmelte Leo mich ab.

„Oh... okay... wie du meinst, du bist der Anwalt!", sagte ich und kicherte unsicher.

„Ja. Bis dann.", ich konnte nicht mal mehr etwas erwidern, da hatte er schon aufgelegt.

***

Die schwarzen Ohren richteten sich nach vorne. Der Hengst zog an und drückte ab. Wir flogen über das Hindernis, schwebten Meter weit über der Erde. Ich hatte das Gefühl ich musste nur die Hand ausstrecken und konnte die Beregnungsleitungen der Reithalle berühren. Geschmeidig landete der Hengst wieder und... setzte zum Bocken an. Dieses Mal war ich darauf vorbereitet und krallte meine Finger in seine dichte Mähne. Springen konnte der Rappe, soviel war sicher. Leider wusste er überhaupt nicht, wie er seine Kräfte einteilen sollte. Der meterhohe Sprung, den wir gerade gemacht hatten, war in Wirklichkeit ein kleines Kreuz, das ich zum Aufwärmen benutzt hatte. Der Hengst trabte übereifrig weiter und machte keine Anstalten, sich endlich auf mich zu konzentrieren. Insgesamt hatte dieser Teufel mich heute schon zweimal herunter gebockt. Immerhin hatte das Einfangen danach nicht wieder eine halbe Ewigkeit gedauert. Langsam aber sicher taten mir aber die Knochen weh. Putzen und satteln war heute schon wesentlich schneller gegangen, natürlich nicht gänzlich ohne Diskussion. Auch der Kampf beim Reiten dauerte heute nur halb so lange, bereits nach zwanzig Minuten ließ der Hengst sich willig ans Gebiss reiten, er bog sich um mein Bein und trat mit der Hinterhand fleißig mit. Ich ritt ihn noch ein paar Mal über das Kreuz, aus welchem er nach wie vor einen riesen Sprung machte, dann ließ ich die Zügel lang und ritt ihn trocken. Kurz darauf führte ich den Riesen aus der Halle und stoppte so abrupt, dass sogar Voyeur sofort stehen blieb und mich nicht weiter hinter sich herzog. Kurz lobte ich ihn, so ein braves Verhalten musste schließlich trotz dem Umstand, dass Leos Auto auf dem Hof stand, gewürdigt werden.

„Aua!", kurz hatte ich nicht aufgepasst, da hatte der schwarze Hengst schon nach meiner Jacke geschnappt und meine Schulter erwischt. Nach einem kurzen Klaps auf die Nase führte ich ihn weiter in Richtung Stall. Er tänzelte mal wieder mehr als das er Schritt ging. Gerade als ich das Stalltor aufschob öffnete sich die Haustür des Haupthauses und Danielle trat, gefolgt von Leo, heraus. Ich sah, dass sie mit dem Finger auf mich zeigte und Leos blaue Augen zu mir blickten. In diesem Moment spürte ich einen unglaublichen Schmerz auf meinem Fuß und schaute herunter.

„Voyeur! Runter da!", brüllte ich und warf mich gegen die Schulter des Hengstes. Natürlich ließ dieses Koloss sich von meinem Gewicht nicht beeindrucken, dennoch besaß er die Güte und nahm seinen Fuß von meinem.

„Das machst du doch mit Absicht!", motzte ich und wartete, bis Danielle und Leo bei mir angekommen waren.

„Hey, was machst du denn hier?", fragte ich freundlich, im Augenwinkel hatte ich Voyeur, der schon wieder verdächtig nahe an meiner Schulter war, im Blick.

„Ich wollte dir die Abschrift der Klage bringen. Sie ist raus.", sagte er und reichte mir einen Umschlag.

„Danke.", es klang vielmehr wie eine Frage, aber es war schon seltsam dass Leo nur wegen dieses Wischs von London hierher fuhr. Ich meine, es gab Postboten und all sowas... Sogar eine Brieftaube wäre für mich logischer gewesen.

„Okay... ich muss dann mal...!", murmelte ich als kein anderer etwas sagte und zeigte auf den Rappen neben mir, der schon wieder eine meiner Haarsträhnen im Maul hatte.

„Lass das!", keifte ich und entzog ihm die blonde Strähne wieder. Ob ich es wollte oder nicht, ob dieser Hengst das ungezogenste und schrecklichste Pferd war, mit dem ich je zu tun gehabt hatte, ich mochte ihn! Er akzeptierte mich nicht als seinen Chef, doch irgendwie kamen wir miteinander aus. Er hatte Charakter, das musste man ihm lassen.


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