Kapitel 27 -Blind faith

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Die Strecke zwischen dem vierten und fünften Hindernis war die längste Distanz. Hier waren Pferde mit großer Galoppade, wie ich eines mit Voyeur hatte, ganz klar im Vorteil. Ich hoffte trotzdem, dass der Hengst sich nach dem Zulegen von mir zurücknehmen lassen würde. Auch wenn er im ersten Umlauf großartig war, er war Voyeur und unberechenbar. Doch ich hatte keine Wahl, ich musste dem schwarzen Hengst vertrauen. Nach dem Richtergruß ertönte sogleich die Klingel, der Start war frei. Voyeur stieg nervös hoch als ich ihm die Galopphilfe gab.

„Komm schon, Hübscher, streng dich an!", murmelte ich und trieb ihn energisch vorwärts. Zum Glück reagierte er und schon waren wir über die Startlinie, ab jetzt lief die Zeit! Kaum hatten wir das erste Hindernis anvisiert bemerkte ich, wie Voyeurs Aufmerksamkeit wieder ganz mir galt. Es war eine Veränderung, die ich durch den ganzen Pferdekörper spürte.

„Na dann los!", sagte ich fest entschlossen zu ihm und schon drückte er sich kraftvoll ab. Voyeur war aufmerksam und nach dem dritten Hindernis beschloss ich aufs Ganze zu gehen. Alles oder nichts. Ich trieb ihn an, gab ihm die Zügel hin und ging in den leichten Sitz. Voyeurs Schubkraft war atemberaubend, ich spürte richtig, wie er sich kraftvoll mit der Hinterhand nach vorne arbeitete und immer mehr an Tempo zulegte. Die Luft über mir zischte, außer dem Trommeln der Hufe und Voyeurs Schnauben war nichts zu hören. Die Zuschauer waren so still, dass ich dachte, ich wäre ganz allein im Stadion. Mein Herzschlag hatte sich dem von Voyeur angepasst, wir waren eins! Hindernis Nummer vier, ein Weitsprung, näherte sich schnell, ich schloss für eine halbe Sekunde die Augen, dann richtete ich mich auf und gab Voyeur eine Parade. Der Hengst reagierte augenblicklich, er verkürzte seine Galoppsprünge, konzentrierte sich ganz auf mich und mühelos überwand er den Sprung. Ein grimmiges Lächeln huschte über mein Gesicht, Voyeur war unbesiegbar! Die Kombination, die das letzte Hindernis darstellte, näherte sich schnell. Gleich hatten wir es geschafft! Ich zählte im Kopf die Galoppsprünge mit, doch plötzlich zuckte Voyeur. Es war von außen nicht sichtbar nur ich, da ich mich seinem Rhythmus angepasst hatte, bemerkte es. Es war ein leichtes Zögern, mehr nicht. Automatisch presste ich meine Waden an den muskulösen Pferdekörper. Voyeur machte, was ich ihm sagte, die Vorhand drückte sich ab, ich lehnte mich nach vorne, seine Mähne kitzelte mich im Gesicht, ich spürte den nassen Dampf aus seinem Fell. Dann drückte Voyeur mit der Hinterhand ab und plötzlich wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Nur ich wusste es, und mein Pferd, keiner sonst konnte es sehen. Ich schloss die Augen. Voyeur zog seine Beine eng an seinen Körper, ich verlagerte das Gewicht wieder nach hinten, der Rappe unter mir streckte die Vorderbeine aus, ich sah, wie sein linkes Vorderbein auf dem Rasen aufkam, doch noch bevor das rechte Bein die Erde berührte, knickte das linke Bein weg. Ein gewaltiger Ruck ging durch Voyeurs Körper. Diesen konnte ich unmöglich abfangen. Die Zügel wurden aus meinen Händen gerissen und ich wurde wie ein Katapult über seinen Kopf geschleudert. Ich registrierte, dass ich ungebremst auf die schweren Holzstangen des nächsten Sprungs zuflog. Automatisch rollte ich mich zusammen, versuchte mein Gesicht zu schützen. Die Wucht des Aufpralls ließ mich aufschreien, der Schmerz kam sofort und geballt. Mein ganzer Körper schien zu brennen. Ich spürte, wie mein Kopf gegen einen Widerstand knallte, ein entsetzliches Knacken war zu hören und der Helm zersplitterte. Ich öffnete die Augen, die Ränder verschwammen, ich war kurz davor, ohnmächtig zu werden, doch da sah ich den schwarzen Pferdekörper auf mich zufliegen. Ich konnte nicht mehr reagieren, sämtliche Luft wurde aus meinen Lungen gequetscht als der schwere Pferdekörper mich unter sich begrub. Vor meinem inneren Auge sah ich innerhalb von Millisekunden so viele verschiedene Bilder: Mom, wie sie mir vorlas, Dad, wie er mir die wunderschöne Daylight zum Geburtstag schenkte, Daylight, der Unfall, Pop, wie er auf mich einredete, Embassy, Little Lady, Danielle, Charly, Cat, Josh, Luke und Leo. Leo, wie er mich zärtlich küsste... Nein! Ich konnte nicht sterben! Mit meiner letzten Kraft drückte ich gegen Voyeurs Körper, er versuchte panisch aufzustehen. Die Hufe, die über mein Bein trampelten sorgten dafür, dass ich nochmals schmerzerfüllt aufschrie, dann stand Voyeur. Er zitterte. Trotz meiner unglaublichen Schmerzen war ich für einen Moment erleichtert. Auf den ersten Blick ging es dem Hengst gut. Meine Augen fielen wieder zu, ich musste wach bleiben. Ich sah Leute, die um uns herum aufgetaucht waren, sie redeten, doch ich verstand sie nicht. Da war nur dieser unbeschreibliche Schmerz. Plötzlich spürte ich, wie sich jemand neben mich fallen ließ, ein Arm schloss sich um meinen Bauch und zog mich etwas hoch, eine Hand legte sich auf meine Wange und drückte mein Gesicht an eine Brust. Die Schmerzen, die erneut durch meinen ganzen Körper loderten, ließen mich Keuchen. Dann erkannte ich den Geruch. Leo. Ich fühlte mich, als würde ich in sekundenschnell durch einen Schlauch gezogen und plötzlich hörte ich alles um mich herum. Es wurde heller, ich sah dass mehrere Leute bei Voyeur standen, hörte Leos Herz viel zu schnell direkt an meinem Ohr schlagen.

„Leo, ist sie tot?", Danielle heulte laut auf. Ich schloss meine Augen wieder.

„Sie müssen Platz machen!", die Stimme eines fremden Mannes drang an mein Ohr. Ich spürte, dass etwas warmes, flüssiges über mein Gesicht lief. Dann hielt ich es nicht mehr aus. Alles wurde wieder dunkler, Leos schneller Herzschlag vermischte sich mit seinen Schluchzern und es war alles, auf was ich mich konzentrieren konnte bevor alles um mich herum komplett schwarz wurde...


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