Prolog

8.4K 349 26
                                    

Die Dächer des Stalls und der Reithalle waren mit Schnee bedeckt. Die feinen Flocken fielen leise auf die Felder und Wiesen, legten sich auf Bäume und bedeckten unser Grundstück. Ich war erst seit ein paar Tagen wieder zuhause und genoss die Ruhe, die ich hier hatte. Mein Traum war in Erfüllung gegangen, ich hatte die Chance genutzt und mein Hobby zum Beruf gemacht. Doch der Trubel, den die Bekanntheit und der Sport mit sich brachten, konnte wirklich anstrengend sein. Ich hatte in den letzten Wochen immer das Gefühl gehabt, unter Beobachtung zu stehen. Die Presse, die ständig irgendwelche Fragen an mich hatte. Tierschützer, die der Meinung sind, Springreiten wäre Tierquälerei. Kritiker, die mich, sobald ich mich in die Nähe meines Pferdes bewegte, wie Geier verfolgten und darauf warteten, dass ich einen Fehler machte. Das tägliche Training war hart, die Trainer verlangten viel. Doch zum Erfolg gehört Fleiß und Konzentration. Aus Erfolg können Legenden entstehen.

Ich trat aus der Haustür und atmete gierig die frische, kalte Winterluft ein. Mein Atem bildete kleine Wölkchen. Ich zog mir die Mütze über den Kopf und stapfte die wenigen Stufen unserer Veranda hinunter. Der Hof war schneebedeckt und lag unberührt vor mir. Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln. Als ich das Stallgebäude erreichte und das Schnauben der Pferde hörte lächelte ich automatisch. Der bekannte Geruch nach Pferd, frischem Heu und Stroh stieg mir in die Nase. Ich fühlte mich daheim. Als die Pferde das Knarzen des großen Holztores hörten, wieherten sie leise. Sie waren hungrig und warteten auf ihr Frühstück. Ich beeilte mich, jedem Pferd seine Portion zu bringen. Kurz darauf war außer den malmenden Pferdekiefern und hin und wieder einem zufriedenen Schnauben nichts zu hören. Ich liebte die wenigen Minuten, die ich morgens im Stall verbrachte. Pop kam meistens erst später und Max, unser Stallbursche, war ein Langschläfer und kam eigentlich fast täglich zu spät zur Arbeit. Doch sein liebevoller Umgang mit den Pferden und seine Sorgfalt machten das wieder wett. Ich ging zu Embassys Box. Sie stand im Stroh, den Kopf im Heu versenkt. Sie wirkte, genauso wie ich, zufrieden, dass sie endlich ein bisschen Ruhe hatte. Ihre Boxennachbarin Little Lady war gerade dabei ihr Heu einmal durch die Box zu befördern und so unter die Selbsttränke zu befördern. Richard hatte sie vor einem halben Jahr zu uns fliegen lassen. Sie war sein Pferd, ich sollte sie auf den Sport vorbereiten und schließlich vorstellen. Ich nahm diese Aufgabe gerne an, im Gegenzug wurde Richard mein Sponsor. Little Lady war für ein Pferd, welches eine große Karriere im Springsport vor sich hatte, klein. Sie war schwarz und zierlich, ihr Wesen war ruhig und liebevoll. Für ein gezüchtetes Sportpferd ihres Alters hatte sie Nerven wie Drahtseile und ließ sich durch nichts so leicht aus der Ruhe bringen. Ich hatte sie sofort in mein Herz geschlossen und auch Embassy mochte die kleine Rappstute gerne. Ich legte meine Arme auf Embassys Boxentür ab und legte meinen Kopf darauf. Wie immer, wenn ich für mich war, schweiften meine Gedanken ab. Sie waren in England bei dem Kerl mit den dunklen Haaren und den blauen Augen. Wir hatten kaum noch Kontakt. Ich hatte immer gewusst, dass es unmöglich war etwas Festes aufzubauen, er lebte schließlich in London, etliche Flugstunden von mir entfernt. Trotzdem hatte ich ihn niemals vergessen, den wunderschönen Sommer den ich in England verbracht hatte und die Zeit mit Leo. Dort hatte ich meine wunderbare Embassy gefunden und mich verliebt. Ich vermisste Leo sehr. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an ihn dachte. Selbst wenn mein Tag vollgepackt war mit Terminen, Interviews und Training. In meinen Gedanken war er immer bei mir. Ich fragte mich, ob er genauso oft an mich dachte. Wahrscheinlich nicht. Sein Studium hatte er beendet und sein Job als Anwalt forderte wahrscheinlich seine gesamte Aufmerksamkeit. Doch jetzt, an Weihnachten, hatte er doch bestimmt ebenfalls ein paar Tage frei? Die Idee war zuerst nur flüchtig, dann hatte sie sich wie ein Virus in meinem Kopf festgesetzt. Und schließlich, bereits nach ein paar Stunden, war ich entschlossen: Ich würde nach England fliegen.

Der Flughafen war überfüllt. Alle wollten zu Weihnachten bei ihrer Familie sein. Ich sah Großeltern, die strahlten als sie ihre Enkelkinder erblickten und Paare, die sich glücklich in die Arme fielen. Kurz stellte ich mir vor wie es wäre, wenn Leo hier auf mich warten würde. Er würde ein Schild in den Händen halten auf dem „Roxy" stehen würde, das Grinsen in seinem Gesicht wäre dieses Grinsen, bei dem man ganz deutlich seine Grübchen sah. Beim Gedanken daran lächelte ich automatisch. Doch er war nicht hier. Er wusste noch nicht einmal, dass ich hier war. Da ich nur Handgepäck bei mir hatte konnte ich das Terminal direkt verlassen und musste nicht noch Ewigkeiten auf den Koffer warten. Als ich die Flughafenhalle verließ empfing mich ein eisiger, starker Wind. Es war dunkle Nacht und der Schnee peitschte mir ins Gesicht. Schnell ging ich zu den Taxiständen und fand zum Glück sofort ein freies Taxi. Ich nannte dem Fahrer Leos Adresse und hoffte, dass er, Leo, nicht auf dem Gestüt bei seinen Eltern war. Blöd wie ich war, war mir dieser Gedanke erst gekommen als ich bereits im Flugzeug war und den Atlantik überflog. Notfalls musste ich mir eben ein Hotel suchen und mich am nächsten Tag auf den Weg zu den Hollingworth Stables machen. Ein Hotel musste ich mir vielleicht auch dann suchen, wenn ich Leo zuhause antreffen würde. Ich hatte keine Ahnung, ob er sich freuen würde, wenn ich plötzlich da stand. Was sollte ich ihm überhaupt sagen? Wir waren kein Paar. Das hatten wir niemals besprochen. Es war eine Sommerliebe gewesen, die ich nicht vergessen konnte, und jetzt war es Winter. Der Fahrer des Taxis fuhr unglaublich langsam, die Straßen waren vereist und rutschig. Hier in London hatte der Schnee nichts Magisches mehr. Er war nass, dreckig und matschig. Während ich auf die bunte und teilweise wunderschöne Weihnachtsdekorationen starrte, die London schmückten, wurde ich immer nervöser. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Es war eine Kurzschlussreaktion gewesen, meistens waren diese Ideen keine von der guten Sorte.

Parcours des LebensWhere stories live. Discover now