Es fiel Marlon schwer, sich an das Gespräch zurückzuerinnern. Sie hatten über so vieles und doch so wenig gesprochen. Er konnte gar nicht mehr sagen, worüber genau. Zwar hatte Andalie ein bisschen ihrer Vergangenheit preisgegeben, allerdings nicht genug, um sich ein Bild davon zu machen. Marlon wurde klar, wie einseitig ihre Unterhaltung gewesen war.

»Sie sagte, ich sei auf sie geprägt«, meinte er und versuchte den Satz möglichst beiläufig klingen zu lassen. So, als kümmerte es ihn nicht, obwohl gerade das die meisten seiner Gedanken beanspruchte.

Olaf schaute ihn mit großen Augen an und wartete, bis er weiter redete, aber es kam nichts mehr. »Wer hätt gedacht, dass du mal auf einen Urdrachen geprägt bist«, seufzte er schließlich und lehnte sich zurück. »Albus wäre mächtig eifersüchtig, Kleiner.« Es war das erste Mal seit langem, dass Olaf den Namen seines Vaters sagte. Marlon erschrak beinahe, als er ihn hörte. Auch wenn er wusste, wie er hieß, war es seltsam fremd jedoch gleichzeitig vertraut, ihn zu hören. Doch das war egal. Er war ohnehin kein Vater für ihn gewesen.

»Dann hätte er mich vielleicht viel eher wahrgenommen«, murmelte Marlon mit zusammengezogenen Augenbrauen. Noch nicht einmal sein eigener Vater hatte ihn gemocht. Er hatte nie das Verlangen danach gehabt, Zeit mit seinem Sohn zu verbringen. Die Drachen waren ihm bedeutend wichtiger gewesen.

»Wenn du dich da nicht täuschst«, lachte Olaf. »Mag sein, dass er nie der beste Vater war – hat den Titel kein Stück verdient, wenn du mich fragst – aber er hat dich geliebt.« Olafs Grinsen war so warm und ehrlich.

Marlon konnte sich an keine Begebenheit erinnern, in der sein Vater ihm seine Aufmerksamkeit entgegengebracht hatte. Eigentlich konnte er sich gar nicht mehr an ihn erinnern. Nicht einmal das Aussehen war ihm im Gedächtnis geblieben. »Nett, dass du probierst, mich aufzumuntern, aber ich weiß, dass du lügst«, seufzte Marlon und legte den Kopf auf den Tisch.

»So ne Prägung nimmt einen ein, lässt alles andere unwichtig werden. Albus hat sich leider zu sehr reingesteigert. Hast sein Notizbuch noch?«, wollte Olaf wissen und Marlon zog es aus seiner Seitentasche. Er wusste selbst nicht, weshalb er es noch immer bei sich trug. Jetzt war sowieso alles egal. Er konnte darin lesen so viel er wollte, das half ihm allerdings nichts. Andalie war wütend auf ihn und er glaubte kaum, das so einfach ändern zu können.

Der Alte öffnete es und schob es Marlon direkt vor die Nase. »Lies«, forderte er ihn auf und wartete geduldig, bis er endlich den Kopf hob. Schon nach den ersten Wörtern stockte Marlon der Atem.

Mein lieber Marlon,
ich möchte dir eine Welt zeigen, wie sie die wenigsten Menschen kennen. Sie wollen nicht verstehen, was ich bereits verstanden habe und nicht erleben, was ich erlebt habe. Sie haben Angst vor Dingen, die ihnen unbekannt sind. Ich will dir verdeutlichen, dass es keinen Wert hat, sich zu fürchten. Dieses Buch soll dir und allen anderen zu verstehen geben, welche Wunder dieses Leben für mich bereitgehalten hat. Und mein allergrößtes Wunder, das bist du. Du wirst irgendwann verstehen, weshalb ich nur selten bei dir sein konnte. Du wirst es erkennen, sobald du die Welt der Drachen erkannt hast.
Ich wünsche mir, dass du mein Vermächtnis weiterführst, wenn ich einmal nicht mehr bin. Erreiche das, was mein ewiges Ziel bleiben wird: Versöhne die Menschen mit ihren Herrschern. Zeige ihnen ein Leben, wie ich es geführt habe. Dies hier soll deine Anleitung sein.

»Er wollte, dass ich die Drachen und Menschen zusammenbringe«, stellte Marlon mit leiser Stimme fest und merkte, wie Tränen über seine Wangen liefen. Endlich begriff er, was das Drachenmal bedeutete. Er sollte Frieden bringen. Nicht, indem er die übrigen Drachen tötete, sondern musste er sie und die Menschen erneut vereinen. »Er wollte, dass ich sein Ziel für ihn erreiche.« Seine Stimme versagte und endete in einem kläglichen Schluchzen. Er konnte nicht fassen, was er da eben gelesen hatte. Er war seinem Vater nie egal gewesen. Es war anders, als er immer gedacht hatte – und als Olaf ihm stets erzählt hatte.

Der GezeichneteWhere stories live. Discover now