Kapitel 21

402 56 0
                                    

Hannah hielt die Amphore mit dem Drachenblut fest umklammert. Ihre Kiefer mahlten aneinander und ihr gesamter Körper verkrampfte sich. Sie glaubte kaum, was sie sah. Das, was die Schmetterlinge ihr zeigten, war nicht, was sie erwartet hatte. Vor ihr lag ein Tal, das von unglaublicher Schönheit zeugte. Aber nicht das war es, das ihre volle Aufmerksamkeit beanspruchte.

Ihre Augen hafteten auf dem Liebespaar. Auf Marlon.

Ihr Kopf drohte zu zerplatzen, so stark waren die Schmerzen, die sich anbahnten.

Beinahe hatte sie Angst, ihre steifen Finger könnten den kleinen Kolben mit dem wertvollen Blut zersprengen. Doch das war egal. Das war nichts im Vergleich zu der Hitze, die sich in ihrer Brust ausbreitete. So weit, dass ihr Gehirn vollkommen ausblendete, was rational und vernünftig war.

Am liebsten wäre sie zu ihnen hingelaufen, hätte sie voneinander getrennt. Den Drachen, der an seiner Seite war, völlig ignorierend. Sie hätte alles getan.

Ohne es kontrollieren zu können, wirbelte sie herum und rannte los. Wohin sie lief, war nebensächlich. Hauptsache weg von dem Anblick, den sie nicht wahrhaben wollte.

Ihr war klar, dass es allein ihre Schuld war. Sie hätte Marlon nicht so leichtfertig abweisen sollen, ihm klar machen müssen, was sie tatsächlich für ihn empfand. Sie hätte nicht so lange warten dürfen, ihm nicht aus dem Weg gehen sollen. Nun hatte sie verloren. Das wollte sie allerdings keinesfalls hinnehmen.

Aber die wunderschöne Lichtgestalt, die mit ihren Lippen an seinen heftete, war nicht zu übertreffen. Hannah vergaß, darüber nachzudenken, was sie überhaupt gesehen hatte. Ein Mädchen, einem Lichtschein gleich, der direkt aus dem Körper des Drachen zu kommen schien.

Weshalb nahm sie die Göre als größere Bedrohung wahr, als das Wesen, dessen Artgenosse beinahe ganz Dronar zerstört hatte? Obwohl sie es wusste, konnte sie es sich nicht erklären. Wann war ihr Marlon so wichtig geworden?

Tränen bahnten sich den Weg über ihr Gesicht und ein Schluchzen drängte sich durch ihre Kehle. Sie stolperte über die Wurzeln und Büsche des Waldes, ohne auf die Hindernisse zu achten.

Deshalb bemerkte sie auch den jungen Mann nicht, der plötzlich in ihrem Weg stand. Sie bremste ab. »Entschuldigung«, murmelte sie und wollte mit gesenktem Kopf an ihm vorbei gehen, da legte er eine Hand auf ihre Schulter. Sie fühlte sich an wie viele kleine Stromschläge und Hannah zuckte zurück.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, behauptete der Mann mit tiefer Stimme. Irgendetwas hatte er an sich, das Hannah entspannen ließ. Jede Last schien von ihr abzufallen und für einen Moment vergaß sie, worüber sie sich gerade noch geärgert hatte.

»Wer bist du?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

»Wir sind uns bereits begegnet. Doch würde ich dir in meiner wahren Form gegenübertreten, wirst du mich wahrscheinlich nicht anhören wollen.« Er grinste, doch dieses Grinsen wirkte unecht.

»Zeig mir deine wahre Gestalt!«

»Sie wird dich erschrecken.«

Hannah schob sich an dem Mann vorbei, wollte weitergehen, doch plötzlich verdunkelte sich der Himmel und ein Drache landete direkt vor ihr auf den Boden.

Mit einem unkontrollierten Aufschrei wich sie einen Schritt zurück. Sie erkannte den Drachen, der sie zuletzt töten wollte. Vor Schreck fiel sie nach hinten um und krabbelte rückwärts weg, doch er hatte sie bereits im Visier. Die grünen Augen, die einen enormen Kontrast zu den dunklen Schuppen bildeten, taxierten sie und ließen sie nicht mehr los.

Der Mann war verschwunden. Er war ein Köder, ein Trugbild. Sie wusste nicht wie und weshalb, aber ihr war klar, dass der Drache sie getäuscht hatte.

»Wie...?« Die Frage blieb in ihrem Hals stecken.

Der Drache grinste überlegen. Er erfreute sich an dem Anblick, den Hannah bot.

»Du bist schwach. Ein Mensch ohne großen Willen. Leicht zu beeinflussen, leicht zu täuschen.« Er schritt näher an sie heran. »Ich kann dir Bilder zeigen, dich Dinge glauben lassen, die nicht existieren. Ich kann dich manipulieren.«

Sie hörte ein Wimmern und bemerkte verschreckt, dass es von ihr selbst kam.

Der Drache machte nicht den Anschein, sie töten zu wollen. Er stapfte ihr langsam, zielsicher hinterher, wie sie über den Waldboden kroch, um sich zu retten. Er stampfte mit den Füßen auf, und die Erde schien zu beben. Nur ein Hieb mit seiner Pranke genügte, aber er unternahm nichts.

Als sie erschöpft und verzweifelt den Rücken gegen einen Baum presste und zum wahrscheinlich ersten Mal in ihrem kurzen Leben betete, blieb er stehen.

»Ich weiß, was du bist«, raunte er mit bedrohlichem Ton. Seine Stimme hallte in Hannahs Innerem wieder. Sie konnte nicht beschreiben, was sie in ihr auslöste. Sie war so durchdringend, dass es ihr Gänsehaut bereitete. »Du bist eine Jägerin. Eine, die mein Volk auf dem Gewissen hat.« Der Drache sprach ruhig, beinahe als wollte er sie nur darüber aufklären. Doch das war bestimmt nicht der Grund für sein Erscheinen.

»Ich bin keine von ihnen. Niemals habe ich einem anderen Wesen etwas zuleide getan«, rief Hannah verzweifelt und hoffte, er würde ihr Glauben schenken.

Sie wusste, von was er redete. In den Schriften, die sie von ihren Vorfahren gefunden hatte, wurde deutlich über den Krieg gegen die Drachen berichtet. Und sie war ein Keimling derer, die die Drachen töteten. Sie war ein Abkömmling, verpestet mit dem Blut der Jäger. Sie selbst allerdings hatte noch nie einen solchen Gedanken gefasst.

»Blut kann man nicht reinwaschen«, sagte Brak'dag Monsa und sofort begannen ihre Tränen, erneut zu fließen. Ihr wurde alles zu viel. Die letzte Zeit war die Hölle auf Erden gewesen.

»Du wurdest verletzt«, stellte der Drache fest und wirkte dabei nur mäßig erstaunt, beinahe so, als habe er erwartet, sie so zu sehen.

Hannah nickte, noch bevor sie darüber nachdachte.

»Ich habe einen Vorschlag, wie wir beide auf unsere Kosten kommen. Ich werde dir keinen Schaden zufügen, obwohl du eine Jägerin bist. Dafür tust du mir einen Gefallen, der auch dir deinen Weg zu diesem Menschenjungen bereiten wird.«

Wenngleich Hannah die Leute über die hinterlistigen Geschäfte mit Drachen hatte reden hören, wurde sie neugierig.

»Was muss ich tun?«


Der GezeichneteWhere stories live. Discover now