Kapitel 10

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Hannah sah sie, wie sie, angeführt von Pibb, mit Fackeln und Waffen vorbeischritten. Sie folgte ihnen und pirschte sich an sie heran, um zu sehen, was sie vorhatten. Als sie vor der Schmiede Halt machten, hielt sie die Luft an.

Sie holten Marlon. Sie hatte nicht geglaubt, dass Pibb seine Worte bewahrheiten würde. Schon gar nicht nachdem so viel Zeit vergangen war und Marlon Tag für Tag beim Aufbau des Dorfes geholfen hatte. Doch er wollte tatsächlich eine Truppe unerfahrener Bauern anführen, einen Drachen zu töten. Waren etwa alle in diesem Dorf verrückt geworden? Wussten sie denn nicht, dass dies ihren sicheren Tod bedeutete?

Hannah erkannte in einigen von ihnen die Feiglinge, die den Angriff aus der Ferne beobachtet hatten, während das Biest sie und Marlon beinahe getötet hätte. Weshalb sollten sie nun in der Lage sein, anzugreifen? Was hatte sich in der Zwischenzeit verändert? Nichts, doch daran dachte kein Einziger.

Langsam kroch sie hinter den Büschen näher an die Meute heran, um zu verstehen, was sie sagten. Pibbs Gebrüll allerdings hörte man bestimmt noch bis in die Dorfmitte. Er raste vor Wut, das merkte man deutlich. Aber so war er ständig, wenn es um Marlon ging. Heute war allerdings das erste Mal, dass er so viele Leute auf seiner Seite wusste.

Auf einmal berührte Hannah jemand an der Schulter und sie fuhr herum. Sie unterdrückte einen Schrei und warf ihre Hände vor das Gesicht. Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, nachdem sie lange Zeit in die Fackeln geblickt hatte. Bald erkannte sie die Umrisse von Linda und Nelo und sie entspannte sich wieder.

»Was habt ihr hier zu suchen?«, murmelte sie und merkte, wie ihr Herz noch immer fest in ihrer Brust pochte. Zu laut, wie sie fand. Am Ende würden die anderen sie deshalb noch entdecken.

»Die Frage wollte ich dir auch gerade stellen. Du solltest doch zu Hause sein. Es ist mitten in der Nacht.« Nelo griff nach Hannahs Arm und wollte sie zurück zerren, aber sie riss ihn los.

»Und ihr seid mir gefolgt?« Sie zog die Augenbrauen zusammen und blickte ihre Freundinnen skeptisch an. Weshalb stellten sie ihr nach?

Auf einmal hörte sie Marlons Stimme in der Ferne und sie fuhr wieder herum. Er stand in der Tür und redete mit Pibb. Was hatte ihn dazu verleitet, nach draußen zu kommen? Dort warteten die wütenden Leute doch nur darauf, ihn in die Finger zu kriegen. Sie kroch ein Stück näher heran. Solange sich niemand zu ihr umdrehte, bemerkte keiner ihre Anwesenheit. Sie atmete nicht und machte auch sonst keinerlei Geräusche.

Als zwei Männer ihn zu Boden zerrten, sprang sie fassungslos auf. Gerade wollte sie schreien, die Kerle dazu bringen, ihn loszulassen, da zog sie etwas zurück hinter die Büsche. Mund und Nase wurden ihr zugehalten, sodass es ihr kaum möglich war, zu atmen. Auch ihre Arme waren unter festen Griffen und sie konnte sich kaum rühren. So sehr sie auch strampelte, sie kam nicht frei.

»Tut uns leid, Hannah«, hörte sie Lindas Stimme und sie riss die Augen erschrocken auf. Sie erkannte ihre Freundinnen, die sie mit ausdruckslosen Gesichtern anstarrten. Ausgerechnet sie, denen sie ihr Leben anvertraut hätte, hielten sie gegen ihren Willen gefangen. »Aber wir können nicht zulassen, dass du ihm hilfst. Es steht zu viel auf dem Spiel.«

Es dauerte einen Moment, bis Hannah sich wieder rührte. Umso stärker wehrte sie sich nun. Sie warf sich hin und her, schlug, biss und kratzte. Sie tat alles, um frei zu kommen. Wenn sie noch nicht einmal ihnen trauen konnte, war sie nun ganz auf sich allein gestellt.

Es war tatsächlich das passiert, wovor Marlon sie gewarnt hatte. Sie alle stellten sich gegen Hannah und ihn. Sie stifteten sogar ihre besten Freundinnen dazu an, sie gefangen zu halten. Sie wusste, dass Pibb dafür verantwortlich war. Und sie wollte ihn auf keinen Fall damit durchkommen lassen.

»Lasst mich zu ihm!«, brüllte sie, als Lindas Hand unter Schmerzen wegzuckte. Aus den Bissspuren drang Blut. »Lass mich los, ich muss ihm helfen.«

Aber anstatt sie loszulassen, zerrten sie sie immer weiter von ihm weg.

Und dann war da dieser eine Moment. Nur ein kurzer Augenblick, in dem Hannah bemerkte, dass es nun vorbei war. Wenn sie Marlon verlor, gab es für sie nichts mehr. In diesem kurzen Moment schwand jede Hoffnung und ihr Körper erschlaffte kraftlos. Sie wusste, er kehrte nicht zurück. Das war keine einfache Suche nach dem Drachen. Es war gleichzeitig die Gelegenheit, den Verderbnisbringer ein für alle Mal loszuwerden.


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