Kapitel 18

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Es gab mehrere Gründe, weshalb Hannah Marlon nicht für verrückt hielt. Zum einen, weil sie den sprechenden Igel ebenfalls hören könnte und dies bedeuten würde, dass sie ebenso ihren Verstand verloren hatte und zum anderen war in letzter Zeit so vieles passiert, das die Annahme eines geheimen Tals nicht ausschloss, sogar bestärkte. Allein das Drachenmal auf Marlons Hand war Grund genug zu glauben, dass Übernatürliches geschah. Dennoch ging sie ohne ihn zurück nach Dronar.

Zu gerne hätte sie ihm geglaubt. Zu gerne hätte sie das Tal gesehen, von dem sie sich Zauber und Magie erhoffte.

Den ganzen Weg über hatte sie überlegt, weshalb Marlon davon ausgegangen war, ein verstecktes Tal mitten im Wald zu finden. Was war mit den anderen Leuten? Mit den Bewohnern Dronars, mit den Wanderern, mit den Händlern, die alle durch den Wald gingen, ohne je von einem solchen Tal berichtet zu haben?

Hannah schloss daraus, dass das Drachenmal seine Sinne trübte. Umso wichtiger war es, dass sie etwas darüber in Erfahrung brachte. Ihn so verloren zu sehen war schrecklich. Als sie ihm den Rücken zugekehrt hatte, konnte sie das Zittern in seiner Stimme einfach nicht überhören.

Und doch wollte sie nicht umdrehen. Nicht zurückblicken zu dem Mann, der langsam verrückt zu werden schien.

Zuhause suchte Hannah nach allem, was sie über Drachen finden konnte. Sie achtete nicht darauf, sich vor ihren Eltern oder Pibb zu verstecken. Das spielte keine Rolle mehr.

Zu ihrer großen Verwunderung fand sie auf dem Dachboden tatsächlich eine vielversprechende Kiste. Sie war aus wunderschönem dunklen Holz und mit goldenen Mustern verziert. Figuren kleiner Drachen zierten die Ecken der Truhe.

Sie hatte Mühe, den schweren Deckel zu öffnen. So leise wie möglich und nur mit einer schwachen Kerze als Licht, stöberte sie durch den alten Kram, den ihre Eltern sorgfältig in der letzten Ecke hinter staubigen Möbeln verstaut hatten. Man könnte fast meinen, sie wollten nicht, dass jemand die Kiste fand.

Langsam hob Hannah den Inhalt Stück für Stück heraus. Sie fand Waffen, die sie nie zuvor gesehen hatte, Amphoren mit unerklärlichen Flüssigkeiten und Bücher, die Wissen über Drachen versprachen. Teile zerstörter Rüstungen waren darin und sogar – sie schnappte erschrocken nach Luft – Zähne und Krallen von enormer Größe. Sie konnte nicht ausschließen, dass es sich um Drachenteile handelte und es dauerte endlose Sekunden, bis sie sich überwand, sie anzufassen und zu begutachten.

Weshalb sollten ihre Eltern solche Dinge aufbewahren? Erstaunt betrachtete sie ihre Fundstücke und mit ein bisschen Ehrfurcht legte sie alles sorgfältig beiseite. Sie reihte sie um sich herum auf, nur um am Ende weiterhin verblüfft auf die Gegenstände zu starren.

Sie hoffte, in einem der Bücher Antworten zu finden. Auf nahezu jeder Seite waren Bemerkungen an den Rand gekritzelt. Alte Schriften, die sie kaum entziffern konnte. Die Sachen mussten Jahrhunderte alt sein.

Neugierig stöberte sie so lange, bis sie tatsächlich etwas über das Tal der Drachen fand.

»Das Tal der Drachen ist von überall erreichbar«, las sie leise vor und zog die Augenbrauen zusammen. »Es ist zu jeder Zeit an jedem Ort. Es ist versteckt und offensichtlich. Menschen haben keinen Zutritt.«

Sie zog Luft durch ihre zusammengebissenen Zähne. Wie konnte Marlon es erreichen, wo er doch genau wie sie ein Mensch war? Ihr hingegen war der Einlass verwehrt gewesen.

»Kleine Wesen, Schmetterlingen gleich, führen hinein«, entzifferte sie eine Randbemerkung und überlegte, ob sie zuvor nicht auch Schmetterlinge gesehen hatte. Allerdings war es im Wald nicht Ungewöhnliches.

Gerade wollte sie das Buch enttäuscht zuklappen, da fiel ihr eine weitere Kritzelei am Rand auf. »Drachenblut vernebelt ihre Sinne. Sie bringen Menschen in das Tal, die welches an sich tragen.« Hannah stutze.

Sie schlug das Buch zu und betrachtete die kleinen Glaskolben mit den unterschiedlichsten Flüssigkeiten.

Und auf einem von ihnen stand tatsächlich »Drachenblut.«


Der GezeichneteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt