Der Gezeichnete

Kapitel 1

Noch vor den ersten Sonnenstrahlen wartete Marlon am Waldrand. Am Horizont ließ sich bereits ein fahles Morgenrot erkennen. Er liebte diese Zeit des Tages. Nicht nur, weil der Himmel sich langsam in eine Leinwand aller Regenbogenfarben verwandelte. Ebenso gefiel ihm die Ruhe, die der Morgen ausstrahlte. Es war kaum etwas zu hören, außer dem sanften Rascheln der Bäume im Wind und das bereits muntere Zwitschern der Vögel. Beinahe ganz Dronar schlief noch, wenn Marlon schon deutlich nervös zwischen den vordersten Bäumen des Waldes stand. Das Stimmengewirr, das tagsüber für gewöhnlich herrschte, konnte er durch die ausgeglichene Stille der Natur zumindest für einen kurzen Moment vergessen. Am Waldrand schien alles anders als im hektischen Dorf. Hier fühlte er sich geborgen und beinahe sorgenfrei.

Was er allerdings am meisten daran liebte, bereits so früh am Morgen aufzustehen, war das zierliche Mädchen, das wie jeden Tag aus Dronar heraus schlich.

Sie tastete sich auf Zehenspitzen voran, als könne das Knistern der Kiesel unter ihren Füßen das gesamte Dorf wecken. Marlon schmunzelte bei dem Anblick. Wie süß sie doch aussah, während sie mit ihren großen grünen Augen herumblickte, als habe sie Angst entdeckt zu werden. Als beginge sie eine Straftat, wenn sie sich mit ihm traf.

Sein Lächeln verschwand, als ihm wieder bewusst wurde, dass es für viele der Dorfbewohner eine solche darstellte.

Die Sorge vergaß er erst, als Hannah sich in seine Arme fallen ließ. Ihre weiche Haut wärmte ihn an jeder Stelle, die sie berührte und ihr sorgenfreies Lachen ließ all seine Gedanken verblassen. Ihre Nase kräuselte sich leicht, als sie Marlon mit überglücklichem Grinsen in die Augen sah.

»Guten Morgen«, flüsterte sie fast unhörbar mit ihrer stets fröhlichen Stimme. Nur kurz schaffte er es, ihrem Blick standzuhalten, bis er sich verlegen abwand. Hannah kicherte wie üblich über seine Unsicherheit und gab ihm einen Kuss auf die Nase.

Sein gesamter Körper kribbelte bei jeder einzigen Berührung. Marlon legte seine Hände an ihre Hüften, als fürchtete er, sie könne jeden Moment davonlaufen. Sanft streichelte er sie, woraufhin sie wieder leise lachte, was die winzigen Sommersprossen auf ihrer Nasenspitze tanzen ließ.

Am liebsten wollte er sie nie mehr loslassen. Doch ihnen blieben ausschließlich die schnellen Minuten, bis die Sonne den Horizont erreichte. Allerdings war es Marlon weitaus lieber, sie immerhin für kurze Zeit im Arm zu halten, als nur aus der Ferne zu ihr hinüber zu sehen.

Schon seit ein paar Wochen trafen sie sich heimlich. Niemand durfte davon erfahren. Es war ihr eigenes kleines Geheimnis. Selbst wenn Marlon wünschte, in der Öffentlichkeit mit Hannah zusammen zu sein, so reichte es vorerst, sie zumindest ab und zu bei sich zu haben.

Er betrachtete ihr Grinsen und konnte es noch immer nicht fassen. Das liebreizendste und hübscheste Mädchen aus ganz Dronar hatte ausgerechnet ihn ausgewählt. Den Nichtsnutz, den niemand in der Nähe wissen wollte. Den Verstoßenen.

Zwischen all dem grau in seinem Leben, war sie das Einzige, das ihm Licht spendete. Ihr Lachen heilte alle seine Wunden der Vergangenheit – wenigstens für einen kurzen Augenblick.

Doch je höher die Sonne stieg, umso klarer wurde die Realität. Und die Zweifel nahmen mit jedem Atemzug zu.

»Ich dachte schon, du kommst nicht.« Er seufzte und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Er wollte ihr so nah sein, wie nur möglich. Jeden kostbaren Moment in sich aufsaugen und keine Stelle ihres Körpers unberührt lassen. Er atmete tief ihren Duft ein. Wie Wildblumen, wie warme Sonnenstrahlen, wie angenehmer Wind. Es fiel ihm schwer, sich von ihr zu lösen.

»Wieso dachtest du das?« Sie legte den Kopf schief. Ihr unerschütterliches Lächeln löste in Marlon so vieles aus. Gefühle, die er vor seiner ersten Begegnung mit Hannah nicht gekannt hatte. Seine Hände begannen zu zittern und umgriff ihre Taille noch ein bisschen fester. Wenn sie grinste, kam er nicht umhin, die Mundwinkel ebenfalls ein wenig nach oben zu bewegen.